„Alles Systemisch?“ - Systemische BeraterInnen und TherapeutInnen positionieren sich!

Wir hoffen mit diesem Diskussionspapier eine notwendige und wünschenswerte Diskussion über Methoden, Techniken und Haltungen sowie deren Anwendungen und „Fehlanwendungen“ herbeizuführen und dadurch wieder zu einer den KlientInnen angemesseneren Arbeit beizutragen. Des Weiteren sollen die Inhalte für die innerverbandliche Diskussion und für die politische Positionierung genutzt werden.

Mit kritischem Auge und wachsendem Unbehagen beobachten wir die Entwicklungen in der Jugendhilfe / psychosozialen Versorgung.

Vor allem der „Ausverkauf“ systemischer Ideen, Haltungen und Methoden ist uns ein Dorn im Auge. Systemische „Labels“ werden missbraucht und lineare, einfache Lösungsideen werden als „systemisch“ verstanden.

Mit Einsetzen von betriebswirtschaftlichen Prinzipien wie Wettbewerb, Steuerung und Kontraktmanagement, deren qualitätssichernde Wirkung in der Arbeit mit sozialen Systemen fragwürdig ist, wurden zeitgleich outputorientierte Zielvereinbarungen, Ressourcenorientierung und Lösungsorientierung als Leitideen der Jugendhilfe / psychosozialen Versorgung eingeführt.

Zunehmend stellen wir systemische BeraterInnen und TherapeutInnen fest, dass erfolgreiche Grundideen systemischer Arbeitsweisen inzwischen als „Labels“ missbraucht werden. Diese suggerieren zwar eine Bezugnahme zu systemischen Denkweisen, zeigen aber lineare, einfach gedachte Vorstellungen von Problemlösungen. Es besteht inzwischen oftmals ein Wildwuchs an Ideen, die systemische Grundgedanken mehr als verwässert haben. Gehörte eine von Neugier und Interesse geprägte Arbeitsweise einst zur systemischen Haltung, stellt diese heute im Rahmen von Marketingstrategien und Sparbeschlüssen einen immer schwierigeren Balanceakt zwischen systemischer Grundhaltung und der Erfüllung von Erwartungen der Auftraggeber und somit manches Mal nur noch ein bloßes Lippenbekenntnis dar.

Wir stellen fest, dass systemische Methoden (nun in der Jugendhilfe) inzwischen immer mehr von dem losgelöst sind, was eine systemische Haltung ausmacht, so dass oft lediglich ein Gerippe von technizistisch angewendeten einzelnen systemischen Methoden (Methodengerippe) – bar jeder systemischen Grundhaltung – zurückbleibt. Dies hat erhebliche Auswirkungen darauf, wie wir – die mehrjährig systemisch weitergebildet sind – arbeiten (können). Denn systemische Grundhaltungen beruhen auf einer von Wertschätzung und Achtung aller Lebensentwürfe getragenen Vorstellung. Sie gehen von einer Idee des Nicht-Wissens und der Neugier gegenüber unterschiedlichen Lebensweisen aus. Diese grundsätzliche Achtung ist eng verbunden mit einer Auflösung starrer Wertedefinitionen, wie Familien sein sollten.

In unserer Kritik beziehen wir uns an dieser Stelle auf einige der zentralsten und am häufigsten technizistisch verwendeten systemischen Begriffe, denen in ihrer konkreten Handhabung keine systemischen Haltungen mehr zugrunde liegen.

1. Ressourcenorientierung verstehen wir als Eröffnung neuer Möglichkeiten bislang ungenutzter Potentiale der KlientInnen, die ihnen helfen, anstehende Probleme zu lösen. Es gibt Gründe, warum KlientInnen diese momentan verschütteten und vergessenen Ressourcen nicht nutzen. Mit dieser Annahme geht eine von Wertschätzung geprägte Haltung einher, die die jeweilige Realität respektiert und annimmt. Durch das Erkennen der eigenen Ressourcen, Fähigkeiten und Stärken entstehen bei den KlientInnen neue Sichtweisen, Denkmuster und Wertvorstellungen und damit Impulse und Zugänge zu neuen Entwicklungsprozessen. In Verbindung mit Gelassenheit und Achtsamkeit gegenüber den KlientInnen werden bei diesen Selbstheilungskräfte aktiviert und gelingendes Handeln ermöglicht. Eine konsequente Ressourcenorientierung stellt eine wichtige Grundlage dar. Systemisch orientierte Fachkräfte vertrauen auf das Vorhandenensein notwendiger Ressourcen und unterstützen die Hilfesuchenden bei der Entdeckung bzw. Reaktivierung von vorhandenen Fähigkeiten und Stärken, die das Erproben neuer Handlungsmöglichkeiten und eine Erweiterung der bestehenden Problemlösungsmöglichkeiten in den Vordergrund stellen.

Kritik: Ressourcenorientierung ist keine Technik, vielmehr entspricht sie einer inneren Haltung, die dazu führt, genau diese Ressourcen, Potentiale und Stärken bei den KlientInnen zu sehen und zu nutzen. Sie bedarf keiner stanzenhaft vorgegebenen Checklisten, um entlang dieser Listen vermeintlich positive Aspekte im Handeln der KlientInnen in Hilfeplänen festzuschreiben. Es ist genau diese künstliche und aufgesetzte Art des Findens von Potentialen der KlientInnen, die dazu führt, dass die KlientInnen diese Stärken oft nicht für sich annehmen und entsprechend auch nicht für notwendige Veränderungen nutzen können. Im Gegenteil werden von den Fachkräften zugeschriebene Fähigkeiten als fremd empfunden. Eine derart technizistisch ausgerichtete „Ressourcenorientierung“ geht an dem vorbei, was systemische Haltung gegenüber KlientInnen ausmacht: Mit Herz und Engagement die Ressourcen der KlientInnen zu erkennen, die KlientInnen in diesem Zutrauen in sie für andere Vorstellungen von sich selbst zu erwärmen und sie für den schwierigen Weg hin zu (erforderlichen) Veränderungen zu gewinnen.

2. Lösungsorientierung verstehen wir im Sinne von Öffnung und Erweiterung von Sichtweisen auch im Kontext bisher unbefriedigender Lösungsversuche. Problemverhalten wird als ein Lösungsverhalten betrachtet, d. h. in jedem Problem ist auch eine Lösungsidee enthalten. Das bisher bestehende Problemlösungsverhalten erweist sich gegebenenfalls als destruktiv. Eine Fokussierung auf die impliziten Lösungsbestrebungen ermöglicht eine Erweiterung der Sichtweisen und damit Optionen für mögliche konstruktivere Lösungen. Wir gehen davon aus, dass jedes Problemverhalten im jeweiligen Kontext einen Sinn macht und eine eigentlich stimmige Schlussfolgerung aus früheren Lebenserfahrungen darstellt (Kontextualisierung). Problemverhalten wird daher nicht nur bezogen auf die einzelne Person, sondern auch auf das Lebensumfeld.

Kritik: Ganz anders erleben wir das Verständnis von Lösungsorientierung immer öfter in der Praxis. KlientInnen werden angehalten, Lösungsideen beteiligter Fachkräfte umzusetzen – und dieses wird dann fälschlicherweise als „Lösungsorientierung“ bezeichnet. Gehen die KlientInnen diesen Lösungsvorgaben nicht nach, werden sie als „nicht an Veränderung interessiert“ bezeichnet. Ihnen werden in solchen Fällen zunehmend gesetzlich gesicherte Rechtsansprüche auf Hilfen verwehrt. Ferner werden teilweise massive Eingriffe in das Leben und die Lebensplanung von KlientInnen vorgenommen – vermeintlich weil keine ausreichenden Ressourcen bei den KlientInnen gesehen werden (dies gilt insbesondere bei als psychisch krank bezeichneten Eltern). Linear, einseitig auf Lösungsvorgaben der Fachkräfte ausgerichtete Hilfeplanungen und Steuerungsversuche stellen daher für uns nicht das dar, was wir als „Lösungsorientierung“ verstehen.

3. Die Auftragsklärung ist ein weiteres zentrales Kennzeichen systemischer Methoden. Bei der Klärung von Aufträgen mit KlientInnen wird davon ausgegangen, dass es nicht möglich ist, Menschen in ihren inneren Vorstellungen und Ideen von sich und anderen zu instruieren. Menschen sind autonom und bestimmen als ExpertInnen für ihr eigenes Leben, was am besten für sie ist. Wir systemischen BeraterInnen und TherapeutInnen verzichten auf geplante und gezielte Veränderungen und zeigen eine respektvolle von Neugier geprägte Haltung. Diese steht der Idee geplanter und gezielter Veränderungen entgegen. Jedes Klientensystem hat seine eigene, immanente Logik. Wir Fachkräfte wissen nicht, was für ein System und damit für KlientInnen gut oder schlecht ist.

Kontrakte sind eine entscheidende Grundlage für eine erfolgreiche Zusammenarbeit auf Augenhöhe zwischen KlientInnen und den Fachkräften, denn nur so kann eine für alle erkennbare Transparenz geschaffen werden; ferner werden die mit einer Zusammenarbeit verbundenen Erwartungen aber auch deren Grenzen deutlich markiert. Diese Transparenz ist auch in „Zwangskontexten“ notwendig, in denen die Fachkräfte gesellschaftlich geforderte Verhaltensveränderungen gegebenenfalls kontrollieren. Grundlage sind stets die Aufträge der KlientInnen. KlientInnen, die als „nicht motiviert“ bezeichnet werden, können (noch) keine Aufträge und Ziele formulieren, da sie aufgrund ihrer Hoffnungs- und Perspektivlosigkeit erheblich in solchen „Planungen“ eingeschränkt sind.

Kritik: Auftragsklärung – oftmals nun bezeichnet als „Aufmerksamkeitsrichtungslenkung“ – geht inzwischen von einer externen Steuerbarkeit von Menschen aus, die einem systemischen Menschenbild, das Menschen als autonome Wesen erkennt, widerspricht. Menschen sind weder durchschaubar noch planbar. Die Klärung von Aufträgen im Zusammenhang mit Hilfeplänen dient inzwischen vor allem der Erfüllung von standardisierten Ablaufvorgaben und nicht – wie dies notwendig wäre – der Erarbeitung von Vorstellungen von Selbstwirksamkeit und Perspektiverweiterungen. Das implizit Gewissheiten suggerierende Kausaldenken (z. B. Aggression = Anti-Aggressionstraining) und die damit verbundene moralische „One-Up-Position“ beteiligter Helfersysteme stehen einer systemischen Grundhaltung und dem damit verbundenen Menschenbild konträr entgegen.

Zusammenfassend:

  1. Ressourcenorientierung stellt mehr als eine Technik dar, sie basiert auf einer von Wertschätzung und Achtung getragenen Haltung gegenüber den KlientInnen. Ihr Ziel ist es, mit Herz und Engagement KlientInnen für ein Zutrauen in sich und ihre Ressourcen zu gewinnen ...
  2. Lösungsorientierung beinhaltet keine planbaren, vorgegebenen Lösungs- und Steuerungsversuche, sondern die Öffnung und Erweiterung von Sichtweisen, die befriedigende Lösungen darstellen. Problemverhalten stellt bereits einen Lösungsversuch dar ...
  3. Auftragsklärung schafft eine für alle erkennbare Transparenz, wodurch die Möglichkeiten und Grenzen der Zusammenarbeit deutlich werden. Sie geschieht in einem Rahmen, der von der Nicht-Instruierbarkeit von Menschen in ihren Haltungen und ihrem Denken ausgeht.

Mitarbeit am Diskussionspapier: Cornelia Adolf, Andreas Block, Dr. Marie-Luise Conen, Jens Gerdes, Britta Heinrich und Susanne Wengler.