Offener Brief an die Bundestagsabgeordneten zum KJSG

Der Gesetzesentwurf stärke in vielen Punkten Kinder und Jugendliche. Er bringe aber gleichzeitig erhebliche fachliche Rückschritte für den modernen präventiven Kinderschutz mit sich und in erheblichem Umfang Nachteile für die betroffenen Kinder, Jugendlichen und Familien sowie das Hilfesystem selbst. Notwendige Weiterentwicklungen, wie sie die Gesetzesinitiative und der Beteiligungsprozess vorsah und sie nach Stand der Fachdiskussion und wissenschaftlichen Forschung erforderlich wären, gelängen nur teilweise, so die Wissenschaftlerinnen und  Wissenschaftler in ihrem offenen Brief.

Alle Infos über den zur Abstimmung stehenden Gesetzentwurf, die Stellungnahme des Bundesrates und die Gegenäußerung der Bundesregierung

Gemeinsame Stellungnahme von DGSF und acht weiteren Fachverbände vom 16. Februar 2021 zum Bundesratsbeschluss vom 12.2.2021 zum Kinder– und Jugendstärkungsgesetz (KJSG)

Der Brief im Wortlaut:

Sehr geehrter Herr Bundestagspräsident Dr. Schäuble,
sehr geehrte Abgeordnete des Deutschen Bundestages,

der Gesetzesentwurf für ein Kinder- und Jugendstärkungsgesetz lässt sich aus Sicht der Profession und Disziplin der Sozialen Arbeit vielfach positiv bewerten: Beratungsansprüche und Beteiligungsrechte von jungen Menschen werden gestärkt und ihr Aufwachsen in und mit Familie und familienunterstützenden, - ergänzenden und -ersetzenden Jugendhilfen – auch über die Volljährigkeit hinaus – werden gefördert.

Gleichzeitig ist aber festzustellen, dass durch die geplanten Regelungen im vorliegenden Gesetzentwurf die über Jahrzehnte hinweg unter großen Anstrengungen von Politik, Verwaltung, Fachverbänden und Wissenschaft erreichten Fachstandards eines präventiven Kinderschutzes gefährdet und z.T. unterlaufen werden. Nicht nur fachlich, auch für die betroffenen Kinder und Jugendlichen in und mit ihren Familien würde dies einen eindeutigen Rückschritt darstellen. An dieser Stelle verweisen wir auch auf die ausführliche Stellungnahme der Fachverbände vom 12. Februar 2021 (1) .

Die Verfahren zum Kinderschutz werden in erheblichem Maße durch die geplante Gesetzesreform bürokratisiert. Die Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe werden tendenziell eher entmündigt als – wie dringend erforderlich – in ihrer Fachkompetenz, in Netzwerkbezügen und in Gestaltungsspielräumen gestärkt. Genau hierzu müsste die Gesetzesreform aber beitragen und die professionelle Weiterentwicklung im Kinderschutz insbesondere im Interesse der Kinder und Jugendlichen fördern.

Ohne Zweifel sind wechselseitige Beteiligungs- und Abstimmungsprozesse in Kinderschutzverläufen fachlich (weiter) zu qualifizieren. Hier wurden im Rahmen vielfältiger Forschungs- und Entwicklungsprozesse aussagekräftige Erkenntnisse generiert, Weiterentwicklungsimpulse erarbeitet und good-practice-Modelle entwickelt und erprobt, die zu einer gelingenden kooperativen Prozessgestaltung in Kinderschutzfällen zum Schutz von Kindern und Jugendlichen beitragen können (2). Einseitige Meldeverpflichtungen (gar eine Meldepflicht) führen – so zeigen Erfahrungen anderer Länder, in denen Meldepflichten bestehen – nicht zu einer Verbesserung des Schutzes von Kindern und Jugendlichen (3). Sie schüren vielmehr die alte Angst vor dem Jugendamt als Eingriffsbehörde und laufen insoweit dem Charakter des achten Sozialgesetzbuches als rechtliche Basis einer modernen Kinder- und Jugendhilfe entgegen.

Wir empfehlen – über die Änderungsvorschläge der Ausschussdrs. 13(19)137 hinaus - weiterhin dringend:

  • die bisherige Regelung des § 4 des KKG beizubehalten. Lokale Praxen der Kooperation im Kinderschutz sind im Sinne eines präventiven Kinderschutzes zu stärken und durch Programme und Initiativen der Fach-ministerien in Zusammenarbeit mit Fachverbänden und Hochschulen zu fördern. Es besteht kein wissenschaftlich belegter und fachlich begründeter Veränderungsbedarf auf normativer Ebene, vielmehr auf der Ebene der jugendhilfepolitischen Konzepte und sozialen Praxen der beteiligten Akteur_innen in Sozial-, Gesundheits- und Bildungswesen sowie Polizei.
  • mit dieser Gesetzesreform einen fachlich begründeten Zuständigkeitsschlüssel im Sinne einer Fallzahlobergrenze (ausgerichtet etwa an der Einwohner_innenzahl unter 18-jähriger Personen im jeweiligen Zuständigkeitsbereich) pro Vollzeitäquivalent innerhalb der Sozialen Dienste der Jugendämter einzuführen, um – wie schon in der Amtsvormundschaft – die Handlungsfähigkeit der Jugendämter vor Ort unabhängig von der Haushaltslage der jeweiligen Kommune sicherzustellen. Nur so lassen sich fachlich begründete Diagnose- und Fallsteuerungskonzepte entwickeln und umsetzen, die für eine nachhaltige Prozessgestaltung in allen hier angesiedelten Aufgabenbereichen erforderlich sind – und mittelfristig auch die Budgets entlasten können.
  • den flächendeckenden Ausbau vorhandener und weiterzuentwickelnder fachlicher Konzepte sozialpädagogischer Diagnostik, der Partizipations- und Beteiligungsverfahren sowie Beratungs-, Begleitungs- und Hilfegestaltung in den Jugendämtern und in kinderschutzrelevanten Netzwerken. Dies sollte in Kooperation mit Hochschulen im Rahmen einer Qualitätsoffensive des Bundes und der Länder begleitet und kontinuierlich verstetigt werden – von zentraler Bedeutung sind hierbei fachlich gestärkte und personell ausgebaute Landesjugendämter. Als Wissenschaftler_innen stellen wir unsere Möglichkeiten bereit, durch Wissenstransfer, Praxisberatung und Forschung – aber auch durch Weiterentwicklung von Curricula in Bachelor- und Masterstudiengängen sowie gezielt auch in der Fort- und Weiterbildung – neue Akzente zur Bildung und Kompetenzentwicklung für (angehende) Fachkräfte, Teams und Kooperationsverbünde sowohl in der Kinder- und Jugendhilfe als auch bspw. bei der Polizei, im Gesundheitswesen etc. zu setzen.
  • Eltern und Kindern, denen es in ihrem familiären Nahraum nicht gut geht, das Recht auf ein vertrauliches Gespräch mit ihrem_r Ärzt_in oder Psychotherapeut_in, Familienhebamme, der Lehrkraft etc. und auf ein gemeinsames Suchen nach Lösungen und ggf. eine abgestimmte Information an das Jugendamt einzuräumen. Die Fachverbände haben in ihrer Stellungnahme vom Februar deutlich gemacht: „Eine Vertrauensbeziehung zwischen Eltern, Kindern und professionellen Akteur_innen ist die Grundlage für die Annahme von Hilfe und eine nachhaltige Veränderung der familiären Situation. Das deutsche Kinderschutzsystem basiert auf der Grundannahme und nutzt den Umstand, dass Kinder, Jugendliche und Familien in vielfältiger Weise einen vertrauensvollen und niedrigschwelligen Zugang zu Fachkräften haben. Nur so erhöhen sich die Chancen, dass schwache Signale erkannt, verstanden und adäquat aufgegriffen werden (können). Dieses Prinzip vertrauensvoller Zugänge muss sich auch in der Zusammenarbeit der unterschiedlichen Akteur_innen als wichtige Basis dieses Systems spiegeln!“ (a.a.O.). Von zentraler Bedeutung ist dabei, dass die Zugänge und staatlichen Maßnahmen bis hin zur vorliegenden SGB VIII-Reform vom Kind und vom Jugendlichen ausgehend gedacht sind, das bzw. den sie zu stärken suchen.

Wir hoffen, dass die angezeigte Reform des SGB VIII unter Würdigung der voranstehenden – aber auch im Rahmen anderer Stellungnahmen formulierten – Kritikpunkte noch in dieser Legislaturperiode fachlich fundiert auf den Weg gebracht wird und schließen uns diesbezüglich dem offenen Brief der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe (AGJ), Deutschem Jugendinstitut (DJI) und Bundesjugendkuratorium v. 28. März 2021 an.

Aachen, Berlin, Düsseldorf, Erfurt, Halle (Saale), Holzminden, Jena, Köln, Mainz, Münster, Paderborn, Potsdam, Villingen-Schwenningen, den 16. April 2021 (ergänzt m. Verweis auf Drs. 19(13)137 am 18.4.2021)

Prof. Dr. Michael Böwer, Paderborn

Prof‘in Dr‘in Verena Klomann, Aachen

Prof. Dr. Timo Ackermann, Potsdam

Prof. Dr. Mathias Berg, Aachen

Verw.-Prof’in Julia Besche, Holzminden

Prof‘in Dr‘in Diana Düring, Jena

Prof'in Dr'in Margret Dörr, Mainz

Prof'in Dr'in Ruth Enggruber, Düsseldorf

Prof'in Dr'in Alexandra Engel, Holzminden

Prof. Dr. Dominik Farrenberg, Aachen

Prof‘in Dr‘in Marianne Genenger-Stricker, Aachen

Prof‘in Dr‘in Silvia Hamacher, Aachen

Prof. Dr. Johannes Herwig-Lempp, Halle (Saale)

Prof'in Dr'in Barbara Lochner, Erfurt

Prof. Dr. Andreas Polutta, Villingen-Schwenningen

Prof‘in Dr‘in Regina Rätz, Berlin

Prof. Dr. Reinhold Schone, Münster

Prof‘in Dr‘in Barbara Schermaier-Stöckl, Köln

Prof‘in Dr‘in Sabrina Schmidt, Köln

Prof. Dr. Marc Schulz, Köln

Verw.-Prof. Julian Sehmer, Holzminden

Prof'in Dr'in Leonie Wagner, Holzminden

Kontakt:

Prof. Dr. Michael Böwer

Katholische Hochschule Nordrhein-Westfalen, Abteilung Paderborn

Leostraße 19, 33098 Paderborn

T. 05251-1225-37, m.boewer@katho-nrw.de

Prof’in Dr’in Verena Klomann

Katholische Hochschule Nordrhein-Westfalen, Abteilung Aachen

Robert-Schumann-Straße 25, 52066 Aachen

T. 0241-60003-42, v.klomann@katho-nrw.de –

(1) Vgl. DGSF (2021): Verbändestellungnahme zum Bundesratsbeschluss vom 12. Februar 2021. Online unter: https://www.dgsf.org/themen/stellungnahmen-1/verbaendestellungnahme-zum-bundesratsbeschluss-vom-12-februar-2021, Zugriff: 13.04.2021).

(2) Vgl. zu Verfahren, empirischen Studien und Modellen: Ader/Schrapper 2020, Flick et al. 2011, Biesel 2012, Böwer 2012, Böwer/Kotthaus 2018, Bühler-Niederberger et al. 2014, Fegert et al. 2010, Gerber/Lillig 2018, Kindler et al. 2009, Klatetzki 2019, Klomann et al. 2019, Messmer 2017, Stadt Dormagen 2007 u. ISA 2011

(3) Vgl. dazu Knorr et al. 2009, Fegert et al. 2010