Wir können und müssen uns neu erfinden

Rezension „Wir können und müssen uns neu erfinden“ von Wilhelm Rotthaus

Schriften über die ökologischen und gesellschaftlichen Folgen unseres Wirtschafssystems zu lesen ist normalerweise keine schöne Beschäftigung für entspannte Feiertage. Solche Texte hindern am Verdrängen, verschlimmern das schlechte Gewissen hinsichtlich der eigenen Handlungsfolgen (Internetkäufe, Flüge, Plastikmüll usw.) und lassen einen allgemein pessimistisch in die ohnehin schon pandemiegetrübte Zukunft blicken.

Wilhelm Rotthaus‘ Buch „Wir können und müssen uns neu erfinden“ ist insofern eine Ausnahme, als es den pessimistischen Prognosen über die Folgen unseres Wirtschaftssystems eine Kultur- und Mentalitätsgeschichte gegenüberstellt, die erklärt, warum es uns als (westlicher) Gesellschaft so schwer fällt, uns langfristig vernünftig zu verhalten, um unsere Existenzgrundlage zu bewahren. Rotthaus erklärt das mit dem neuzeittypischen Individualismus und dessen Begleitideen: u. a. einer linear ablaufenden (und deswegen knappen und folglich optimal zu füllenden) Zeit, einem Kausalitätsmodell, das auf simple Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge spezialisiert ist und komplexe, wechselwirkende Beziehungen ausblendet, auf die mentale Trennung zwischen Natur und eingreifendem Mensch, der sich nicht als Teil der Natur versteht.

Der mentalitätsgeschichtliche Teil des Buches lässt das Therapeut*innenherz höher schlagen, weil er darstellt, dass unsere Art, die Welt zu empfinden, nicht naturgegeben und zwangsläufig ist, sondern auch anders sein könnte und auch einmal anders war. Das verdeutlicht Rotthaus anhand der Menschen des Frühmittelalters, die sich selbst und ihre Umwelt wohl sehr anders verstanden haben als wir es heute tun. Wie sich dieses unterschiedliche Empfinden niederschlägt, zeigt Rotthaus anhand von Rechtsprechung, Naturdeutung und Kunstwerken.

Es bleibt offen, wie man auf breiter Ebene zu einem ausreichend schnellen Bewußtseinswandel hin zu mehr Verbundenheit kommen könnte. Aber die Gedanken zur Ich-Zentrierung des eigenen Bewusstseins bleiben über die Lektüre hinaus hängen, und das ist ja schon mal ein guter Start. Auch wichtig: das Buch ist so fließend und beispielreich geschrieben, dass es sich auch an Feiertagen auf dem Sofa ohne große Anstrengungen lesen lässt.  

(Kerstin Dittrich)