Bonner Erklärung (3/2006)

Die Teilnehmer des Symposiums „Das Unbehagen in der (Psychotherapie-)Kultur“ am 17./18. März 2006  in Bonn-Röttgen beschließen folgende

Bonner Erklärung

Wir beobachten mit großer Sorge in der Psychotherapie eine Verengung des Denkens auf Ansätze, die eine "evidenzbasierte Einheitspsychotherapie" favorisieren. Sinnverstehende, einem humanistischen Menschenbild verpflichtete psychotherapeutische Traditionen haben in dieser Konzeption keinen Platz: Sie sollen inhaltlich, politisch und ökonomisch verdrängt und ausgegrenzt werden.

Psychotherapeutische Verfahren sind nach unserem Verständnis nicht eine Sammlung von Behandlungstechniken, sondern ein System von anthropologischen Grundannahmen, Persönlichkeits- und Störungstheorien, Behandlungs- und Techniktheorien und darauf beruhender Behandlungspraxis. Das schließt wissenschaftlich begründete Weiterentwicklung und den Austausch zwischen verschiedenen psychotherapeutischen Traditionen ausdrücklich ein.

Wir wenden uns deshalb gegen die Zergliederung von Psychotherapieverfahren in Verfahren, Methoden und Techniken und gegen die ausschließende, diagnosebezogene Zuordnung von Psychotherapieverfahren.

Der Reduzierung der Patienten auf Symptome liegt ein Psychotherapieverständnis zugrunde, das mit dem Selbstverständnis der Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten und dem geltenden Psychotherapeutenrecht nicht zu vereinbaren ist. Für die ganzheitliche Sicht des Menschen, für eine ver­lässliche psychotherapeutische Beziehung und für die Entwicklungsmöglichkeiten der Pati­enten bliebe kein Raum. Psychotherapeuten behandeln nicht Symptome, sondern Menschen, die an Symptomen leiden !

Eine Beschränkung  von Psychotherapieverfahren auf bestimmte  Symptombereiche und eine Zersplitterung der Psychotherapie in Teilbereiche ist  auch aus der Psychotherapieforschung nicht abzuleiten.

Die Vielzahl der Lebensentwürfe und die vielfältigen Zugänge zum Verständnis menschlicher Existenz, die sich in unserer pluralen Wertekultur entfalten, finden ihre notwendige Entsprechung in den unterschiedlichen psychotherapeutischen Grundrichtungen.

Den neuen Absichten des Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) mit Eingriff in das Berufsrecht und das Selbstverständnis der überwiegenden Zahl der Psychotherapeuten setzen wir unseren Widerstand entgegen – im Interesse der Patienten, denen wir verpflichtet sind und im Interesse der Qualität der psychotherapeutischen Versorgung.

Wir lehnen die Anerkennung und die Zulassung von psychotherapeutischen Verfahren ausschließlich auf der Grundlage von Wirksamkeitsmessungen an bestimmten ICD-10-Diagnosen ab. Das Vorgehen steht im Widerspruch zum Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse, es erfasst nur einen Bruchteil der Faktoren, die eine erfolgreiche Psychotherapie ermöglichen.

Wir wenden uns deshalb nachdrücklich gegen die vom Gemeinsamen Bundesausschuss derzeit angestrebte Form der Neufassung der  Psychotherapierichtlinien.

Kommentierung von Anni Michelmann (zur Unterstützung der Erklärung 2006)