Das Schweigen brechen

Alex Rühle, Redakteur der Süddeutschen Zeitung, hat im Auftrag der Redaktion von Geo-Wissen an einem dreitägigen Aufstellungsseminar in Wiesloch teilgenommen. In seinem Artikel erwähnt er die DGSF-Stellungnahme zu "Hellinger" (2003):

" ... Seine Kritiker werfen Hellinger indes vor ... Verschiedene Therapeutenverbände distanzieren sich inzwischen von seinen radikalen Methoden und einigen seiner Postulate. So betont etwa die 'Deutsche Gesellschaft für Systemische Therapie, Beratung und Familientherapie', dass Hellinger die Existenz naturgegebener familiärer Grundordnungen und Hierarchien mit einer Absolutheit vertrete, die die Autonomie der Klienten stark einschränke. ..."

Link zum Geo-Heft "Familie": www.geo.de/GEO/heftreihen/geo_wissen/die-macht-der-familie-81914.html

Von der Redaktion wurde der DGSF folgender "Anleser" des Artikels zur Verfügung gestellt

Das Schweigen brechen

Eine Familie vermag ihre Mitglieder zu behüten, aber auch zu belasten. In einem solchen Fall soll eine besondere Methode, die »Aufstellung«, Menschen helfen, eine neue Perspektive zu gewinnen – und so das Miteinander zum Guten wenden. Kann das funktionieren?

Text: ALEX RÜHLE

Ich bin da hingefahren wie ein Schulmediziner zu einem Homöopathen-Kongress oder ein Atheist zu einem Kirchentag: Ist doch Humbug. Autosuggestiver Quatsch.

Die sogenannte „Familienaufstellung“, das muss ich erklären, ist im weitesten Sinne eine Form von Psychotherapie.

Sie soll Menschen dabei unterstützen, ihre großen Lebensdramen zu bewältigen – auf sehr unkonventionelle Weise. Denn statt dass ein Klient in wochenlangen Sitzungen mit -einem Therapeuten seine Seelenqualen bespricht, wird er gebeten, seine Probleme einmalig in einer Art lebendem Standbild zu inszenieren. Und zwar mithilfe anderer Menschen, die er in der Regel noch nie zuvor gesehen hat.

Die Fremden verkörpern bei der Familienaufstellung stellvertretend die Schlüsselfiguren im Leben des Betroffenen, etwa Ehemann, Ehefrau, Mutter, Vater oder Geschwister.

Und dadurch, dass der Klient diese Statisten wie ein Regisseur im Raum platziert, also „aufstellt“, soll er sein inneres Abbild vom individuellen Drama seines Lebens darstellen.

Die Repräsentanten wiederum – wohlgemerkt: zumeist willkürlich ausgewählte Fremde – spüren dann angeblich auf wundersame Weise die großen Konflikte in der Familie des Klienten am eigenen Leib. Indem sie laut aussprechen, was sie in ihrer jeweiligen Rolle fühlen, verschaffen sie dem Leid-geplagten Einsicht und Linderung.

So weit die Theorie.

Klingt alles nach Esoterik? Das dachte ich auch. Ich bekam den Auftrag, als offen Zweifelnder über meine Erlebnisse bei solch einer Familienaufstellung zu berichten. Ich hielt mich für zu kritisch und aufgeklärt, um bei diesem Budenzauber irgendetwas zu empfinden, außer vielleicht Befremden. Und gab der Sache nicht wirklich eine Chance. Umso überraschender war, was dann geschah.

Wiesloch, ein Städtchen in der Nähe von Heidelberg. Wir sitzen in einem Seminarraum des Instituts für systemische Lösungen. Die Psychotherapeutin und Institutsleiterin Dr. Diana Drexler begrüßt 22 Besucher zu einem dreitägigen Seminar.

Zwölf Teilnehmer werden ihr jeweiliges Problem „stellen“, wie es heißt. Die zehn übrigen sind Interessierte, die das Verfahren kennenlernen wollen, oder Personen in therapeutischer Ausbildung, die abends nach dem Kurs mit der Leiterin die Vorgehensweise diskutieren. Auch diese Beobachter werden tief in die Probleme der Stellenden verstrickt sein.

Diana Drexler hält eine kurze Vorrede: Jeder der Teilnehmer werde hier „ein inneres Bild von seinem System aufstellen, um in diesem Bild einen besseren Platz zu finden“. Das „System“: So nennen die Aufsteller das jeweilige Beziehungs-geflecht, in dem ein Mensch lebt. Dabei kann es sich um die eigene Familie handeln, einen Freundeskreis oder auch um Arbeitskollegen. Hier in Wiesloch werden wir uns in diesen drei Tagen ganz auf die Familie konzentrieren.

Zugleich warnt die Therapeutin vor überzogenen Erwartungen. Aufstellen, das sei keine Ultrakurztherapie – und häufig werde auch eine einmalige Familienaufstellung der Komplexität eines Problems nicht gerecht. Niemand könne die großen Fragen des Lebens „mit einmal Stellen lösen“.

Sie unterscheidet deshalb zwischen Problembeschreibung und Anliegenklärung: Das Problem sei oft ein schon lang existierendes Lebensthema. Zugleich müsse aber für die drei Seminartage „ein konkretes Anliegen definiert werden, durchaus verbunden mit dem Wunsch, herauszufinden, wie ich das große Problem in Zukunft anders angehen könnte“.

Die 57-Jährige betont, es empfehle sich manchmal, eine solche Aufstellung therapeutisch begleiten zu lassen. Dann beendet sie ihre Einführung mit einem Bild: „Jeder von uns verfängt sich auf der Reise mit seinem Lebensboot mal in Gestrüpp oder läuft auf Sand auf. Wenn es klappt, erhält dein Boot einen ,Anstoß‘, und du kommst wieder in anderes Fahrwasser.“ Ich muss zugeben, die Einführungsrede ist angenehm vorsichtig.

Das Seminar beginnt damit, dass die zwölf Stellenden ihr jeweiliges Anliegen vortragen. Bei manchem wirkt es sofort sehr klar: „Ich habe sechs Kinder und das Gefühl, meiner ältesten Tochter nicht gerecht zu werden.“ Bei anderen ist es eher diffus: „Ich bin 41 und weiß immer noch nicht, wohin mit mir im Leben.“ Oder „Ich spüre oft eine immense Wut in mir.“

Eine kurze Pause, dann fragt Diana Drexler in die Runde: „Wer möchte beginnen?“ Im Grunde wollen sie alle, sonst wären sie ja nicht gekommen, aber es ist wie ein Sprung in die Tiefe. Schließlich sollen sie hier vor Fremden Dinge preis-geben, die sie im Alltag gern verdrängen. Und so sitzen alle da wie eine Schulklasse, wenn es ans Abfragen geht. „Ich komme mir vor wie in der Schlange zur Achterbahn“, sagt ein Teilnehmer später in der Pause, „du willst es unbedingt, aber du hast Bammel, weil du weißt, dass es heftig wird.“

Schließlich meldet sich Stefan, ein geschiedener Mann, der sich wünscht, dass die beiden erwachsenen Kinder
seine neue Lebenspartnerin akzeptieren. Diana Drexler bittet ihn auf den Stuhl neben sich.

Sie sagt: „Beende mal den Satz: Wir haben hier gut gearbeitet, wenn …“

„… sich für mich neue Perspektiven ergeben“, sagt Stefan.

„Du willst dein Gegenwartssystem stellen. Wer ist darin wichtig? Wen brauchen wir dafür?“, fragt Frau Drexler.

„Mich. Meine Freundin. Meine zwei Kinder“, antwortet Stefan. „Dann hört’s gefühlt auf.“

Die Teilnehmerin neben mir schüttelt den Kopf und flüstert etwas von Verdrängung. Frau Drexler sagt: „Dann stell mal auf: dich, deine Freundin, deine zwei Kinder – und deine Exfrau.“

Stefan seufzt: „Das ist jetzt die harte Nummer, oder?“ Alle lachen.

Frau Drexler: „Das Spannende ist oft das, was fehlt. Ich schlage vor, wenn du deine Familie stellen möchtest, gehört die Mutter deiner Kinder dazu.“

Stefan muss jetzt Stellvertreter suchen: Menschen, die ihn, seine Exfrau, seine Kinder und seine Freundin repräsentieren. Er fragt mich, ob ich ihn spielen will.

Stumm führt Stefan uns jeweils an den Platz, den er für stimmig hält, indem er uns an den Schultern nimmt und irgendwo auf dem Teppich positioniert. Als er fertig ist, stehe ich so, dass ich „meinen“ Sohn und „meine“ Exfrau von der Seite anschaue, die Rücken an Rücken vor mir platziert sind. Links von mir befindet sich „meine“ Tochter, schräg hinter mir „meine“ Freundin.

Stefan setzt sich auf den Beobachterstuhl. Frau Drexler will wissen, wie es uns geht, ob wir etwas spüren. Und tatsächlich: Es fühlt sich an, als wären wir auf einmal magnetisch aufgeladene Figuren, die einander heftig anziehen oder abstoßen. „Wir stehen falsch zueinander“, sage ich, ohne nachzudenken.

Diana bittet mich, das zu erklären.

Naja, warum steht meine Freundin rechts hinter mir? Mir im Nacken? Ich will die doch sehen! Meine Exfrau, obwohl fast genau vor mir, nehme ich kaum wahr. Dafür meinen Sohn, der mich aber nicht anschaut. Warum ist der so abweisend?

Das Gefühl der Unstimmigkeit ist so jäh wie beklemmend, als hätte ich einen engen Pulli verkehrt herum angezogen. Mein Sohn muss Ähnliches spüren. Er tritt fast augenblicklich einen Schritt von mir und meiner Exfrau weg, neben meine Tochter, und sagt, er wolle mit meinen Problemen nichts mehr zu tun haben, ich solle aufhören, ihn da hineinzuziehen.

Es ist überraschend, wie schroff er das sagt. Der junge Mann, der die Rolle des Sohnes übernommen hat, war in der Vorstellungsrunde schüchtern und leise.

Es ist, als würden durch den rechteckigen Teppich, auf dem drei Tage lang alle Aufstellungen stattfinden, unsichtbare Starkstromleitungen laufen. Die Repräsentanten werden zuweilen von derart starken Emotionen gepackt, dass sie in der Aufstellung zu weinen beginnen oder danach verblüfft sagen, wie überrumpelt sie waren von ihrer Wut, Freude, Sehnsucht. 

(…)