Ein Tagungsbericht aus Sicht eines Mitglieds des Forums Gesellschaftspolitik

Ein sonniger Herbst erwartete uns auf dem wunderschönen und gut ausgestatteten Campus der Goethe Universität Frankfurt am Main. Die Architektur der Gebäude, das Angebot an Sitzecken, Kaffeebars, Außengastronomie sowie die Nähe der Gebäude, Veranstaltungsorte und Räume zu einander machten Begegnung und Gespräch in kollegialer und lockerer Atmosphäre möglich. Man traf immer jemanden auf dem Weg irgendwo hin.

Toll war neben dem Ticket für die öffentlichen Verkehrsmittel auch die Möglichkeit, an allen Tagen die Frankfurter Museumslandschaft zu genießen, was mir leider nicht vergönnt war, aber von einigen TeilnehmerInnen gerne genutzt wurde.

Das Systemische Zentrum der Wispo AG hat für die diesjährige Jahrestagung neue Möglichkeiten geschaffen.

Das Tagungsprogramm des Forums Gesellschaftspolitik

Das Forum Gesellschaftspolitik, welches aus der zeitlich begrenzen AG Gesellschaftspolitik hervorgegangen ist, hatte die Chance, während der gesamten Tagung ein eigenes Programm anzubieten.

So hatte ich die Ehre, als Sprecherin der Fachgruppe Armut und System Professor Dr. Christoph Butterwegge, Politikwissenschaftler von der Uni Köln und zurzeit Deutschlands bekanntester Armutsforscher, als einen von drei EröffnungsrednerInnen begrüßen zu dürfen. Ein voller Hörsaaal macht deutlich, wie wichtig die Ausführungen Christoph Butterwegges zur Armut, Prekarität und sozialer Ausgrenzung sind! Er führte sehr detailliert aus, warum die Schere zwischen Arm und Reich in Deutschland immer breiter wird und was das für unsere Gesellschaft bedeutet.

Sehr eindrücklich ist mir eine Zahl in Erinnerung geblieben: 994 Millionen Euro hat die Familie Quandt / Klatten an Dividende aus ihren BMW-Aktien im vergangenen Jahr eingenommen. Ein Empfänger von SGB II-Leistungen erhält im Monat 404 Euro an Unterhalt. Ab Januar 2017 werden die Leistungen für Erwachsene und Jugendliche bis 16 Jahren um jeweils 5 Euro erhöht. Die Grundsicherung für Kinder wird nicht erhöht.

In der anschließenden Diskussionsrunde wurde er gefragt, welche Vorschläge er hat, um politisch aktiv zu werden. Er erwiderte dazu, dass es sich auf jeden Fall immer lohne, politisch aktiv zu werden. Er sei zwar Pessimist im Kopf, aber Optimist im Herzen! Jedes Engagement, ob Demonstrationen, Veröffentlichungen u. a. lohne sich.

Anschließend durfte ich eine Podiumsdiskussion zum Thema „Hartz IV und Bedingungsloses Grundeinkommen: Der Streit um die richtige Existenzsicherung“ moderieren. Die vier PodiumsteilnehmerInnen sind zum Teil bereits seit Jahren aktiv in der politischen Arbeit zur Verbesserung der Lebensbedingungen von Menschen, die von Sozialleistungen leben. Die Anstrengungen, die dieses Engagement mit sich bringt, waren im Gespräch zu spüren und auch die damit verbundenen Kränkungen und Frustrationen. Der Einsatz für gerechtere Lebensbedingungen bedarf viel Ausdauer und Energie.

Die Diskussion hielt sich nicht so sehr bei dem Streit über die richtige Existenzsicherung auf. Es ging eher um die Perspektive von Menschen im Leistungsbezug und deren Erfahrungen in der Selbsthilfe und im politischen Engagement. Dabei wurde deutlich, dass es zum einen die partizipationsmüden und zum anderen die stark engagierten „Betroffenen“ gibt, die sich in ihren Zusammenschlüssen manches Mal überwerfen und wieder zusammen raufen. Dies schien insbesondere deswegen interessant, da immer die Beteiligung von „Betroffenen“ gewünscht wird.

In Zwischengesprächen mit anderen Mitgliedern des Forums Gesellschaftspolitik haben wir uns gefragt, inwieweit DGSF-Mitglieder mit ihrer Expertise Betroffeneninitiativen unterstützen können, um einer Partizipationsmüdigkeit vorzubeugen und der Streitkultur zu mehr Konstruktivität zu verhelfen.

Auf die Frage, was die PodiumsteilnehmerInnen sich von der DGSF wünschen würden, gab es Einhelligkeit: Mitarbeit, Mitwirken in Netzwerken und politischen Verbünden, die Veröffentlichung von Positionspapieren und die Unterstützung von Initiativen, wie z. B. „Mein Grundeinkommen.de“ oder „Sanktionsfrei“.

Angebote der DGSF-Fachgruppen am Donnerstag

Am Donnerstagabend fanden von 17:30 Uhr bis 19:00 Uhr die Angebote der DGSF-Fachgruppen statt. Im Seminarhaus war es voll und lebendig, so dass der Eindruck entstand, dass es ein großes Interesse an der Arbeit der Fachgruppen gibt. In einigen Fachgruppen fanden die Wahlen der SprecherInnen statt. Die Fachgruppe Armut und System konnte eine kleine – aber dafür interessierte – Runde begrüßen. Es war ein anregender Abend mit engagierten neuen und alten InteressentInnen.

Die Tagung aus TeilnehmerInnensicht

Am Freitag durfte ich die Tagung mehr aus der TeilnehmerInnensicht erleben. Besonders beeindruckt haben mich hier Nora Bateson und Saskia Sassen. Nora Bateson hielt am Freitagnachmittag einen Vortrag mit dem Titel: „WHO ARE WE …NOW?“. Ich kann nicht sagen, ob sie wirklich etwas bahnbrechend Neues entwickelt hat. Aber es wehte ein besonderer Geist durch den Raum, während sie sprach. Die Liebe zu Menschen und der Unterschiedlichkeit der Individuen war wahrzunehmen. Ihre Offenheit gegenüber der Komplexität des menschlichen Seins und ihre Überzeugung der besonderen Verbindung zu unserer Umwelt durchzog ihren Vortrag. Ihre Gedanken und Worte waren für mich sehr inspirierend.

“You are an ecology of selfs!“

Vielleicht ist diese spürbare Haltung Ergebnis ihrer besonderen Beziehung zu ihrem Vater Gregory Bateson.

Saskia Sassen zeigte in ihrem Vortrag „Ausgrenzung: Brutalität und Komplexität in der globalen Welt“ auf, inwieweit die Globalisierung des Kapitals unsere Städte und ihre Identität und damit das urbane Leben bedroht bzw. verändert. Ihr Überblick über die Immobilienkäufe chinesischer Holdings in London und anderswo machte deutlich, wie Länder ihre Territorien erweitern, indem sie Immobilien und Grund und Boden in anderen Ländern kaufen und Städte dadurch ihre Identität verlieren (werden).

Beide Vorträge machten klar wie wichtig und notwendig es heute (immer noch oder wieder) ist, unser Leben mit einem ökosystemischen Blick zu betrachten.

Claus Leggewie zeigte in seinem Vortrag „Experimentelle Politik. Eine Kritik der Postdemokratie“, wie sich Extremismus und Faschismus in den Gesellschaften der Welt aktuell entwickeln und welche Gefahren davon ausgehen. Er plädiert für mehr Beteiligung der BürgerInnen z. B. in sogenannten Zukunftsräten. Dazu hat er mit Patrizia Nanz ein Konzept entwickelt („Die Konsultative“, als Buch erschienen im Wagenbach Verlag). Zukunftsräte sollen als Konsultationsräte kommunalen PolitikerInnen zur Seite stehen und aus der Bevölkerung heraus relevante Themen benennen. Dies könnte dem vorbeugen, dass Menschen sich von der Politik abgehängt fühlen und PolitikerInnen nicht mehr am Puls dessen sind, was die Bevölkerung bewegt.

Podiumsdiskussion: Unser neoliberaler Alltag und unsere Handlungsspielräume

In der anschließenden Podiumsdiskussion unter Moderation von Jochen Schweitzer brachten Mitwirkende des Forums Gesellschaftspolitik, Fabian Scheidler und Claus Leggewie zum Abschluss unseres Themenstranges neue Erkenntnisse, Ideen und Impulse zusammen. Die Diskussion war für ihren Platz im Tagungsablauf – 11:00 Uhr am Samstag kurz vor Ende der Veranstaltung – wirklich gut besucht. Viele Gesichter aktiver DGSF-Mitglieder und auch andere InteressentInnen waren im Hörsaal 2 zu sehen. Viele fühlten sich durch unseren Themenstrang angeregt und aktiviert, sich wieder politischer einzumischen und zu engagieren: sowohl privat, in Fort- und Weiterbildung als auch in Beratung, Therapie und Coaching.

Am Ende kam die Idee auf, die DGSF als Labor zu nutzen, um zum einen mit mehreren Partizipationsformen zu experimentieren und dabei zum Beispiel einen Zukunftsrat zu installieren – nach der Idee von Claus Leggewie. Zum anderen trat die Frage auf, inwieweit unsere DGSF-Gremien die Verbandsmitglieder in ihren Zusammensetzungen widerspiegeln (Alter, Berufstand, u. a.) Jochen Schweitzer regte an, eine Befragung „DGSF-Mitglied, das unbekannte Wesen“ zu machen: Wie politisch sind die Mitglieder und für welche politischen Themen und Haltungen stehen sie? Peter Gester trat ein für die Re-Politisierung von Beratung und Therapie und das Forum Gesellschaftspolitik möchte mit den Instituten ins Gespräch darüber gehen, inwieweit politische Einmischung Thema in Fort- und Weiterbildungen werden kann oder soll. Einig waren sich alle, dass der Verband sich nach außen hin mehr vernetzen und in politischen Verbünden einbringen und engagieren möchte.

Ich habe mir zum Abschluss einen Gedanken notiert:

„Solidarität als systemischer Moment.“ Im Sinne des Netzwerkgedankens ist Solidarität doch eine unserer systemischen Grundtugenden.

Das Tagungsthema des nächsten Jahres in München lässt hinsichtlich der diesjährigen gesellschaftspolitischen Bewegungen im Verband eine spannende und 17. Jahrestagung erwarten.

Lediglich bezüglich des Tagungsfestes in diesem Jahr sind ein paar Fragezeichen bei mir aufgetaucht: Eine andere Tagungsteilnehmerin antwortete mir auf die Frage, ob man sich denn gleich bei dem Fest sehen würde, dass dies doch eine elitäre Veranstaltung sei. Und tatsächlich finde ich, dass wir uns als Verband fragen sollten, ob die finanzielle Gestaltung der vergangenen Tagungsfeste unserer Philosophie entspricht: Es ist einigen TagungsteilnehmerInnen nicht möglich neben dem nicht unerheblichen Tagungsbeitrag eine solch hohe Summe für Essen und Musik zu zahlen. Das macht die Feiern zunehmend zu einer „innercircle“ Veranstaltung. Möchten wir das so?

Trotzdem freue mich auch im nächsten Jahr wieder auf viele Impulse durch Vorträge und Workshops und das Zusammentreffen mit lieben KollegInnen!

Köln, 06.10.2016, Tanja Kuhnert