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Menschliche Veränderungsprozesse – begleiten, erfassen, gestalten

Ein Kongressbericht von Günter Schiepek und Rieke Oelkers-Ax

Kongressbericht: Menschliche Veränderungsprozesse – begleiten, erfassen, gestalten - Das Synergetische Navigationssystem (SNS) in Praxis und Forschung

Von Donnerstag, 15. Juni, bis Samstag, 17. Juni 2023, fand an der Paracelsus Medizinischen Universität (PMU) Salzburg ein Kongress zur Anwendung von SNS als Prozessmonitoring- und Feedbacksystem in unterschiedlichen Praxisfeldern statt. Ergänzend zu regelmäßigen Online-Intervisionstagen in den letzten Jahren war dies der erste Präsenz-Kongress zu diesem Thema, zwar deutschsprachig, aber doch international mit Teilnehmenden aus Deutschland, Österreich, Slowenien, Italien und der Schweiz.

Auf hohem Niveau, mit viel Erfahrung und viel Begeisterung berichteten die Referierenden in Vorträgen und Workshops über die Implementierung und Anwendung des SNS in Kliniken und Praxen, in Jugendhilfeeinrichtungen und im Leistungssport, in der Psychotherapie (z. B. mit Epilepsiepatient*innen) und in der Sozialrehabilitation, in der Supervision, der Teamentwicklung und in der psychotherapeutischen Aus- und Weiterbildung.

Veranstaltet wurde der Kongress von der PMU Salzburg (Institut für Synergetik und Psychotherapieforschung), der Universitätsklinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik (UKPPP) der PMU Salzburg, dem Center for Complex Systems (ccsys, Weinstadt und Salzburg) und der Deutschen Gesellschaft für Systemische Therapie, Beratung und Familientherapie (DGSF). Organisiert wurde der Kongress von Prof. Günter Schiepek (PMU), PD Dr. Rieke Oelkers-Ax (Familientherapeutisches Zentrum Neckargemünd, DGSF) und Prof. Wolfgang Aichhorn (UKPPP). Sponsoren waren die DGSF, die UKPPP der Salzburger Landeskliniken, die Deutsche Gesellschaft für Autosystemhypnose und das Center for Complex Systems (CCSccsys).

Die Eröffnung erfolgte durch Dr. Brigitta Pallauf, Landtagspräsidentin des Bundeslandes Salzburg, die darauf hinwies, wie wichtig es in der heutigen Zeit sei, das Komplizierte anzuschauen, das Komplexe zu benennen und zugleich zuversichtlich zu bleiben. Prof. Wolfgang Sperl, Rektor der PMU, Prof. Wolfgang Aichhorn, Vorstand der UKPPP und Prof. Matthias Ochs, Vorsitzender der DGSF sprachen weitere Grußworte und würdigten die Innovationskraft des SNS.

Das SNS ist ein digitalisiertes System zur Prozess- und Outcome-Erfassung (z. B. mittels einer App oder über das Internet) menschlicher Veränderungsprozesse. Die Technologie ist generisch, was bedeutet, dass beliebige Fragebögen zu beliebigen Zeitpunkten eingesetzt werden können. Die Prozesserfassung erfolgt in der Regel in einer täglichen Abtastfrequenz, was methodische Vorteile für die Analyse der resultierenden Zeitreihen, aber auch therapeutische Vorteile durch die regelmäßige Selbstreflexion der Nutzerinnen hat („Messung ist Intervention“). Bei der Nutzung kann man zwischen Standardfragebögen (z. B. dem validierten Therapie-Prozessbogen) und personalisierten Fragebögen wählen. Diese entstehen gemeinsam („auf Augenhöhe“) mit der Klientin/dem Klienten auf der Basis einer systemischen Fallkonzeption (z. B. Ressourceninterview und idiographische Systemmodellierung). Die Zeitreihen machen die Selbstorganisationsprozesse in Therapien und anderen persönlichen Entwicklungsprojekten deutlich und werden anschaulich und benutzerfreundlich mit Methoden aus der Theorie der Selbstorganisation (Synergetik) und der Chaostheorie ausgewertet, die den Anwender*innen relevantes Feedback geben, ohne dass sie profunde mathematische Kenntnisse besitzen müssen.

Kompetente und erfahrene Praktiker*innen des inzwischen groß gewordenen Anwendernetzwerks des SNS gaben sich gegenseitig und auch neuen Interessent*innen einen Einblick in unterschiedliche Formen der Anwendung, in unterschiedlichen Kontexten und in Kombination mit unterschiedlichen Verfahren (z. B. kognitive Verhaltenstherapie, systemische Therapie, Analytische Psychologie nach C. G. Jung, Autosystemhypnose). Beispiele waren die Eltern-Kind-Therapie im Familientherapeutischen Zentrum (FaTZ) Neckargemünd, in der ambulanten Einzelpsychotherapie, in der Paartherapie, im Strafvollzug (Sozialrehabilitation), in der Jugendhilfe (Ohlebusch-Gruppe Baden-Württemberg), in der Schulpädagogik, in der Supervision (SFU Ljubljana) und in der Aus- und Weiterbildung (SFU Ljubljana und Psychologische Hochschule Berlin). Ein von allen sehr wertgeschätzter Höhepunkt des Kongresses war die Teilnahme von Klient*innen (real anwesend und online zugeschaltet), die über ihre Erfahrungen mit dem SNS als Therapiebestandteil in einem stationären und einem tagesklinischen Aufenthalt berichteten. Taufrisch war der Bericht über die ersten Ergebnisse einer Klient*innen- und Therapeut:innenbefragung zu den technischen und therapeutischen Erfahrungen mit dem SNS (Lime-Survey der LMU München), die durchweg (aus Therapeut*innen- wie aus Klient*innenperspektive) den therapeutischen Nutzen des Vorgehens verdeutlichten (Unterstützung der therapeutischen Beziehung, Förderung der Veränderungsmotivation und der erlebten Selbstwirksamkeit, Eröffnung neuer Perspektiven, Intensivierung der Selbstreflexion, etc.). Ein Bericht von den psychotherapeutischen Einrichtungen der Sanitätsbetriebe Südtirol in Bozen machte deutlich, dass das SNS sich nicht nur in seinen Anwendungsfeldern, sondern auch geographisch erweitert. Unter anderem wird dort eine italienische Übersetzung des Therapie-Prozessbogens validiert.

Eine randomisierte kontrollierte Studie läuft im Moment zum Mehrwert und Zusatznutzen des personalisierten Einsatzes des SNS im Vergleich zu Psychotherapie ohne SNS (in diesem Fall: Autosystemhypnose). Hierüber wurde ebenso berichtet wie über die Arbeit mit dem SNS im Coaching und in der Teamentwicklung (Systemmodellierung und teamspezifische Prozesserfassung in einer Abteilung des Schweizerischen Bundesamts für Migration). Hochfrequente Prozesserfassungen von Klient*innen, Therapeut*innen und Supervisor*innen helfen, die Wirkmechanismen von Supervision besser zu verstehen, und die von vielen Klient*innen verfügbaren Tagebuchdaten erlauben einen Mixed-Methods-Ansatz, um qualitative und quantitative Perspektiven auf Selbstorganisationsprozesse zu kombinieren. Prozessdaten aus dem SNS tragen dazu bei, ein theoretisches Modell therapeutischer Veränderungsprozesse zu validieren. Mit den auf diesem Modell beruhenden Computersimulationen wäre es in Zukunft möglich, die möglichen Effekte und eventuelle Risiken von Interventionen zu simulieren, bevor sie real umgesetzt werden. Mit der Verfügbarkeit eines validen Phasenübergangs-Detektors in Zeitreihen können zudem Frühwarnindikatoren präziser bestimmt werden als bisher. Diskutiert wurden auch methodische Fragen wie die der geeigneten Abtastfrequenz von Prozesserfassungen. Künstliche Intelligenz kann in Zukunft Teil der SNS-Entwicklung werden, z. B. um den Algorithmus des Phasenübergangs-Detektors zu optimieren oder um therapeutische Entscheidungsprozesse auf der Basis quantitativer und qualitativer Prozessanalysen (Mustererkennung) zu unterstützen.

Wie sich das SNS in der Versorgungspraxis etablieren wird, hängt wohl von mehreren Faktoren ab, unter anderem von der Integration des Paradigmas der Selbstorganisation komplexer Systeme in die Ausbildungscurricula, insbesondere die Approbationscurricula, von den Möglichkeiten der Finanzierung durch Krankenkassen, von der Technikakzeptanz von Praktiker*innen, und von neuen Perspektiven auf die Qualitätssicherung („Evaluation 2.0“, vgl. Schiepek & Oelkers-Ax, 2022, Familiendynamik). Diese Fragen wurden in Vorträgen des Vorstands der Österreichischen Gesundheitskasse (bei der 80% aller Versicherten in Österreich Mitglied sind), Andreas Huss, und einer Repräsentantin des Deutschen Instituts für Qualität und Transparenz im Gesundheitswesen (IQTiG), Frau Fanny Schöller-Rädke, thematisiert. Eine Podiumsdiskussion, an der neben den Vorgenannten auch der Vorsitzende des Bundesvorstands des ÖBVP, Friedrich Faltner, teilnahm, rundete den gesundheitspolitischen Schwerpunkt des Kongresses ab.

Der in jeder Hinsicht sehr gelungene Kongress machte deutlich, wie die Methodenentwicklung rund um das SNS sowohl zu einer Verbesserung der Praxis als auch zur praxisbasierten Forschung beitragen kann. In diesem Sinn ist die Entwicklung des SNS „Forschungs-Ermöglichungsforschung“ und die Prozessorientierung des Paradigmas der komplexen Systeme ein zentrales Merkmal einer systemisch-integrativen Psychotherapie - und in unserer in Umbrüchen befindlichen Welt vielleicht wichtiger als jemals zuvor.

Günter Schiepek und Rieke Oelkers-Ax