Kindesmissbrauch wirksam begegnen

Die Medienberichte der vergangenen Wochen und Monate zeigen, dass Kinder und Jugendliche in erschreckendem Maße physischer Gewalt und sexueller Gewalt in Schulen, Internaten und Einrichtungen der Jugendhilfe ausgesetzt waren und immer noch ausgesetzt sind. Mutig offenbaren und beklagen die heutigen Erwachsenen, in welch vielfältigen Formen sie als Kinder von Erziehern, Lehrern, Priestern und anderen Vertrauenspersonen für deren Bedürfnisse missbraucht wurden: für deren Bedürfnisse nach sexueller Befriedigung, vor allem aber für deren Bedürfnisse nach Ausübung von Macht und Unterwerfung. Die Liste der Institutionen, in denen dies – zum Teil mit Wissen der verantwortlichen Vorgesetzten – geschah und geschieht, ist lang: von der als Reformeinrichtung hoch gelobten Odenwaldschule bis zu Einrichtungen der katholischen Kirche reicht die Palette, von Nord bis Süd, von Ost bis West. Eine Reihe von betroffenen Opfern finden sich an runden Tischen und in Solidargemeinschaften zusammen, betroffene Organisationen richten telefonische Beratungsdienste ein. Das Thema der Traumatisierungen von Kindern und Jugendlichen in familiennahen, familienergänzenden und familienersetzenden Einrichtungen hat die Öffentlichkeit erreicht und aufgeschreckt. Und das ist gut, wenn es ein Umdenken in der jeweils verantwortlichen Leitungsebene fördert, zur Konfrontation von Tätern führt und wenn in der Folge auch für Kinder und Jugendliche heute eine optimale Sicherheit vor den Übergriffen Erwachsener gewährleistet wird.

Gegenüber allen Formen von sexueller Gewalt und physischer Gewalt darf es keine Toleranz geben. Durch die Berichte der damalig betroffenen, heute erwachsenen Opfer wird deutlich, wie die Ausbeutung und Erniedrigung lebenslange Spuren hinterlassen haben, die man heute komplexe posttraumatische Belastungsstörungen nennen würde. Die in ihrer psychischen, geistigen und körperlichen Entwicklung befindlichen traumatisierten Kinder können als Folge davon unter schwer zu regulierenden emotionalen Zuständen leiden, unter Selbsthass und selbstverletzendem Verhalten, unter niedrigem Selbstwertgefühl, unter problematischem Beziehungsverhalten (extrem abhängig oder extrem misstrauisch). Zusätzlich kann sich diese Beeinträchtigung, die auch mit „Entwicklungstraumastörung“ bezeichnet wird, in dauerhaft negativer Wahrnehmung der Umwelt, in anhaltendem Vertrauensverlust gegenüber anderen Menschen und in chronischer Beeinträchtigung der Lernfähigkeit bemerkbar machen. Je früher und je intensiver ein Kind traumatisiert wurde und umso weniger heilende positive Erfahrungen mit anderen Menschen gemacht werden konnten, umso prägender also die Trauma-Erfahrungen als wesentlicher Teil der Kindheit oder Jugend waren, umso heftiger zeigen sich die oben beschriebenen Symptome. Jeder Schlag ins Gesicht oder auf den Po und jeder sexueller Übergriff hat seine seelischen Folgen. Die populäre Vermutung, dass eine Tracht Prügel zur rechten Zeit noch keinem geschadet hat, trifft nicht zu.

Es trifft aber auch nicht zu, dass jedes Opfer eines Tages selbst zum Täter wird. Aus der Resilienz-Forschung wissen wir von den enormen Kräften des „Gedeihens trotz widriger Umstände“. Aus Menschen, die in ihrer eigenen Kindheit Schreckliches erlebt haben, können ebenso Retter und Schützer von Kindern werden, wenn die traumatischen Erfahrungen gestoppt werden konnten und wenn heilende Erfahrungen mit anderen Menschen möglichst früh und dauerhaft einsetzten.

Folgenreiche Entwicklungstraumatisierungen geschehen allerdings nicht nur beim  Missbrauch durch Vertrauenspersonen in Institutionen. Die schwerwiegendsten Traumatisierungen entstehen beim Missbrauch durch Vertrauenspersonen innerhalb der Familie, im schlimmsten Fall durch die eigenen Eltern.

Wie können aus Misshandlungs- und Vernachlässigungsmustern in Familien schützende und heilende Beziehungen entstehen? Systemische Familientherapeuten haben sich schon lange vor der aktuellen Debatte damit beschäftigt, welche Formen von Beratung und Therapie nötig sind, um innerfamiliäre Gewalt und innerfamiliäre sexuelle Übergriffe zu stoppen bzw. dem vorzubeugen. Der erste Schritt, gewalttätige Muster zu stoppen, besteht oft darin, die Täter sofort von ihren Opfern zu trennen, um diese zu schützen – besonders, aber nicht nur, wenn Kinder betroffen sind. In solchen akuten Gefährdungssituationen hat auch aus systemischer Sicht Opferschutz Vorrang vor der Veränderung von familiären Verhaltensmustern. Nicht selten gelingt es aber auch, dass innerfamiliäre Missbrauchstäter die Bereitschaft entwickeln, therapeutische Hilfe zu suchen – oft unter dem Druck der Familiengerichte. Therapeutische Hilfe für innerfamiliäre Missbrauchstäter kann Teil einer alle Familienmitglieder einbeziehenden professionellen Hilfe sein.

Systemische Interventionsansätze haben sich in unterschiedlichen Arbeitsfeldern bewährt. Im Fokus der Aufmerksamkeit stehen dabei nicht nur die Probleme, sondern in viel stärkerem Maße die vorhandenen oder zu entwickelnden Ressourcen und die Lösung der Konflikte. Wirksame Hilfen werden zum Beispiel in Sozialpädagogischer Familienhilfe, der Erziehungsbeistandschaft, Aufsuchender Familientherapie, systemischer Traumatherapie oder in stationären und teilstationären Arbeitskontexten geleistet, wie auch in so genannten Zwangskontexten: Angeordnete Therapie und Beratung kann dann hilfreich sein, wenn Familienmitglieder andere gefährden, aber selbst nicht (oder noch nicht) zu einer Veränderung ihres Verhaltens motiviert sind.

Systemische Therapeuten und Berater beschäftigen sich in ihrer Arbeit außerdem damit, wie Übergriffe und Missbrauch verhindert werden können. Erfahrungen aus der systemischen Arbeit geben dabei auch Hinweise, wie dem Missbrauch in Institutionen vorgebeugt werden kann. Die Ereignisse der letzten Monate zeigen, dass wir uns nicht auf den guten Willen engagierter Menschen oder auf fachliches Charisma verlassen dürfen. „Systemiker“ wissen, dass menschliche Systeme, seien es Familien oder Institutionen wie Heime oder Internate, die sich nach außen abschotten und zu so genannten geschlossenen Systemen werden, besonders anfällig für heimliche und verheimlichte Übergriffe werden. Notwendig ist hier Kontakt zu externen Instanzen, an die sich Opfer vertrauensvoll wenden können und Gehör finden.

Supervision, Coaching und durch externe Fachkräfte begleitete Teamentwicklung wirken im institutionellen Bereich präventiv. In Schulen sollte zum Beispiel regelmäßig Supervision oder Coaching für Lehrer angeboten werden. Solche Maßnahmen tragen dazu bei, die in einer Organisation tätigen Menschen in ihrer Achtsamkeit und Wachsamkeit zu stärken und ihnen Mut zu machen, Kritisches und Heikles auch gegen ideologische und autoritäre Widerstände anzusprechen. Das Bewusstsein, dass Übergriffe überall passieren können, muss wach gehalten werden, die Dialog- und Konfliktfähigkeit muss gestärkt werden. Auch in „offenen“ Systemen sind Übergriffe nicht völlig zu verhindern, aber unwahrscheinlicher. Immenser menschlicher Schaden wird abgewendet, wenn von Übergriffen Betroffene nicht mehr Jahre und Jahrzehnte mit ihrem Trauma alleine bleiben, sondern zeitnah Gehör und professionelle Unterstützung finden.

Für die DGSF

Alexander Korittko
Sprecher der DGSF-Fachgruppe Trauma und System

Prof. Dr. Jochen Schweitzer
Vorsitzender der DGSF