Tagungsbericht: DGSF im Aufbruch

[Bericht von Katrin Richter zur Jahrestagung im Systemagazin]

András Wienands

DGSF im Aufbruch: ein Rückblick zur DGSF Tagung in Essen

 
Um es vorab zu sagen: Die DGSF Tagung vom 10. bis 13. September in Essen mit dem Titel „Systemische Hirngespinste – Neurobiologische Impulse und andere Ideen für die Systemische Theorie und Praxis“ war eine rund um gelungene Tagung, die mit mehr als 600 Teilnehmern nicht nur die bisher größte Tagung in der Verbandsgeschichte war, sondern auch inhaltlich begeistern konnte. Vielleicht ist die große Teilnehmerzahl auch dem Tagungsthema, dem Einfluss der Neurowissenschaften auf die systemische Praxis, zuzuschreiben. Wie auch immer, das IFS in Essen, sein Leiter Reinert Hanswille und das Organisationsteam, hat ganze Arbeit geleistet.

Des Weiteren weiß ich nicht genau woran es lag, dass mir diese Tagung so gut gefallen hat. Entweder es lag an den durchweg guten Beiträgen und der guten Stimmung unter den Kongressteilnehmern. Oder es lag an meiner guten Laune und der Freude vier Tage lang ohne Windelwechseln und Spielplatzbesuche mit vielen netten Kolleginnen und Kollegen in Essen verbringen zu dürfen.

Fangen wir mal mit der Frage an, was eine DGSF Tagung ohne Caroline Keuser und Bernhard Schorn von der DGSF Geschäftsstelle wäre (die weiteren Kolleginnen mögen entschuldigen, dass ich hier die beiden „Dienstältesten“ herausgreife). Eine kurze Antwort: sie wäre schlicht nicht vorstellbar. Beiden, als Mutter und Vater unserer „DGSF-Zentrale“, sei an dieser Stelle ein herzliches Dankeschön für ihre wohltuende Präsenz an den DGSF Kongressen, so auch diesem, gesagt.

 Beginnen wir inhaltlich mit den Eröffnungsvorträgen am Mittwoch. Prof. Hans Markowitsch hat mich an eine immer wieder leicht in Vergessenheit geratene Erkenntnis der Gedächtnisforschung erinnert: Informationen werden zustandsabhängig eingespeichert und abgerufen, d.h. Erinnerungen können anhand von Erfahrungen rekonstruiert werden. Dass sich traumatische Erfahrungen auch noch nach fünfzig Jahren präzise abrufen lassen, sofern die inhibitorischen Prozesse im Gehirn wegfallen, empfand ich ebenfalls als sehr interessante Information.

Als nächstes stand der Vortrag von Herrn Prof. Günter Schiepek auf dem Programm. Eine der vielen erstaunlichen Informationen, die anhand seiner Forschungsergebnisse zu Tage gefördert wurden, war, dass sich die größte Instabilität des Klienten nicht etwa während, sondern vor dem Einsetzen einer therapeutischen Interventionen, zeigt. Seine Forderung für die systemische Praxis, sich nicht auf eine bestimmte Funktionsebene festzulegen, sei diese nun verbal, emotional, interaktionell oder physiologisch, empfand ich ebenfalls als bereichernd.

Die Mitgliederversammlung am Mittwochnachmittag sollte in die Verbandsgeschichte eingehen. Überschrift: „Singender Vorstand begeistert die Massen!“ Dass Michaela Herchenhan, Susanne Altmeyer, Rainer Schwing und Jochen Schweitzer so gut singen können, hat mich nun auch auf emotionaler Ebene von unserem Vorstand vollständig überzeugt. Ich empfinde es als sehr angenehm und mutig, dass dieser Vorstand so viel Nähe wagt, auf solche und ähnliche Weise zur Begegnung einlädt und damit auch, in der zum Teil sehr anstrengenden Verbandspolitik, jene (systemische) Haltung lebt, die wir nach außen hin vertreten. Eine Haltung, die das Alte ehrt, das Neue wagt und dabei zum lebendigen Miteinander einlädt. Wenn man sich dann noch das Pensum anschaut, welches gemeinsam mit den DGSF Mitgliedern gestemmt werden soll, kann ich nur noch sagen: Hut ab oder vielmehr Hosen an oder einfach nur: Lasst uns Singen.

Am Donnerstagvormittag hat uns Gunther Schmidt, als bewährter „Realitätenkellner“ (dies eine Selbstbeschreibung) zum gewünschten Kompetenzerleben geführt und einen unübertroffenen Flowzustand im Auditorium ausgelöst. Dass der Körper dabei zur Erzeugung der Lösungsrealität eingesetzt werden kann, ist manchem Systemiker vielleicht noch gar nicht so bewusst gewesen. Dass Herr Schmidt die Systemik der 90-er Jahre dabei als „emotions- und körperphobisch“ bezeichnet, hat mich zum Schmunzeln gebracht.

Prof. Luise Reddemann hat in herrlich sarkastischer Manier dazu geraten, sich keinesfalls zu weit von der gut bewährten Traumakonfrontation wegzubewegen. Ohne Konfrontation keine (Er-)lösung. Der positiven Psychologie sollte man daher mit gesunder Skepsis gegenüber stehen, da, was positiv ist, grundsätzlich als gefährlich zu bezeichnen ist.

Dann ging es in die Symposien und Workshops, die hier aufzugreifen die Kapazitäten sprengen würde. Dennoch dies Eine in Kürze: Karl-Heinz Pleyer hat mich in kenntnisreicher Weise in die Traumatisierung eingeführt, die Eltern im Umgang mit traumatisierten Kindern erfahren können („Parentales Trauma“). Dass hier ein besonderes Augenmerk auf die Bezugspersonen gelegt werden sollte, empfinde ich als eine sehr wertvolle und bisher kaum beachtete Information.

Am Freitagvormittag durften wir dem stellvertretenden Vorsitzenden der DGSF, Rainer Schwing, bei einem, wie ich meine, sehr zu empfehlenden Vortrag zuhören. Ohne hier auf die Inhalte näher eingehen zu wollen (diesen wie viele andere Vorträge des Kongresses gibt es im Auditorium Verlag als DVD), möchte ich doch betonen wie sehr mich die Haltung, die hier zur Geltung kam, angesprochen hat. Vielleicht war es neben dem Inhalt auch die Art und Weise mit der Rainer Schwing den neuen Umgangston in „unserem Haus“ (der DGSF) transportiert hat. Voller Witz und Selbstironie hat der Zuhörer eine Fülle an Informationen erhalten, die in meinen Augen ein rundes Paket mit der Bezeichnung „Systemische Praxis heute“ ergeben haben. Dass die Systemik aufgrund neurowissenschaftlicher Erkenntnisse derzeit im Begriff ist, ihre Ursprünge neu zu entdecken und sich dabei von der Kognitions- zur Emotionsorientierung, von einer verbalen zu einer Handlungsorientierung, vom Verstören zur direktiven Intervention und vom „Heldenmythos“ Kurzzeittherapie zur begleitenden Unterstützung entwickelt, war nur eine von vielen gelungenen Beschreibungen. Den Begriff des „verhaltensoriginellen Jugendlichen“ verwende ich seit dem Vortrag mit Genuss.

Der Vortrag von Prof. Gerald Hüther war ebenfalls eine Freude. In jedem Menschen ist mehr möglich, als er im Augenblick realisiert hat. Es besteht also noch Hoffnung, auch für mich. Und dass sich Gehirne nicht trainieren lassen, sondern Begeisterung und ein wohlwollendes Klima brauchen um lernen zu können, ist eine wunderbare Botschaft. Therapieziel Begeisterung, Kongressziel Begeisterung, DGSF-Ziel Begeisterung. Kurz: ich war begeistert. Dass Einstellungen das Ergebnis von Erfahrungen sind und sich nicht durch Belehrungen korrigieren lassen, möchte ich mir für die nächste Diskussion mit meinen Klienten merken. Dass diese (Einstellungen) lediglich durch neue Erfahrungen bzw. den Kontakt zu alten positiven Erfahrungen modifiziert werden können, ahnte ich zwar schon, aber dies von Herrn Prof. Hüther zu hören, tat noch einmal besonders gut.

Als dritte Rednerin an diesem Vormittag kam Maria Aarts auf die Bühne. So wie unsere Klienten, laut den Ausführungen von Frau Aarts, am meisten an ihren Erfolgen lernen, so tun das wohl auch wir Therapeuten, einschliesslich Frau Aarts. Frau Aarts bei ihren Darstellungen von Marte Meo auf der Bühne zu erleben, ist immer wieder wunderbar.

Nach einem berauschenden Tagungsfest, das gegen halb vier seinen Ausklang fand, hat uns Prof. Jochen Schweitzer, Vorsitzender der DGSF, am Samstagmorgen ein lebendiges Bild der DGSF in zwanzig Jahren gezeichnet. Erstaunlich dabei empfand ich die stark dezentrale Organisation. Und dies erinnerte mich wiederum an Günther Schiepek, der in seinem Eröffnungsvortrag sinngemäß sagte: „Gehirne sind dezentral organisiert, es existiert keine Kommandozentrale von der die Befehle ausgehen“. Schön, dass Herr Schweitzer in seinem Bild der DGSF dieses „weiche“ Bild von flachen Hierarchien und einer Organisation in Netzwerken gezeichnet hat. Für mich eine schöne Vision eines auf dann evtluell auf 4000 Mitglieder angewachsenen Verbandes.

Die kurze Kabarett Einlage von Reinert Hanswille, dem Institutsleier des IFS in Essen, hat mir besonders gut gefallen. Mutig und schön, wenn sich einer der Institutsleiter der DGSF, zu einer solchen „Ulknudel“ wandeln kann.

Dass der Maria-Bosch-Förderpreis für die Abschlussarbeit von André Kleuter zum Thema Mobbing vergeben wurde, hat mich gefreut, da auf diese Weise diesem, häufig noch zu wenig beachteten Thema Rückenwind gegeben werden konnte.

Insgesamt kann ich sagen, dass diese Tagung von einer hohen „atmosphärischen Intelligenz“ begleitet war. Mögen dieser DGSF-Tagung viele weitere inhaltlich und emotional ähnlich bewegende Tagungen folgen.

András Wienands, Berlin

wienands|at|gstb.org
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