Nachruf auf Helm Stierlin

Die DGSF trauert um Helm Stierlin (*12. März 1926; † 9. September 2021)

Prof. Dr. med. Dr. phil. Helm Stierlin, Psychiater und Philosoph, Gründer und Leiter der Abteilung für psychoanalytische Grundlagenforschung und Familientherapie am Universitätsklinikum Heidelberg von 1974 bis 1991, ist tot. Er starb am Donnerstag, dem 9. September nach langer, in liebevoller Pflege geduldig und freundlich ertragener Krankheitszeit, in der Wohnung der Familie in Heidelberg-Neuenheim.

Helm Stierlin gehörte zu dem kleinen Kreis der Pioniere, die in den 1970er-Jahren die Familientherapie in Deutschland bekannt gemacht und ihr in der Psychotherapie einen prominenten Platz verschafft haben. Als experimentierfreudiger Praktiker, als philosophisch und begrifflich rigoroser Theoretiker, als international vernetzter Gastgeber früher Kongresse und Arbeitstagungen und als Förderer jüngerer Kollegen hat er weit über seine Emeritierung 1991 hinaus viel beigetragen zu jenem beachtlichen „Blühen systemischer Praxis“, das in veränderten Formen bis heute weitergeht.

Helm Stierlin war Gründungsmitglied der DGSF, zuvor schon Mitglied des Vorgängerverbandes DAF (Deutsche Arbeitsgemeinschaft Familientherapie). Aber mit vielem, was einen Verband wie die DGSF ausmacht, hat Helm Stierlin wenig am Hut gehabt. Regularien therapeutischer Verbände hat er sich in seinen jungen Jahren der psychiatrischen und psychoanalytischen Ausbildung unterworfen, ist ihnen später aber konsequent aus dem Weg gegangen. Als Lehrtherapeut wäre er in der DGSF vor 2011 – dem Jahr, als die DGSF den „Weg C zum Lehrenden“ für ältere Kolleginnen und Kollegen aus der „Pionierzeit“ einführte – nicht zertifizierbar gewesen. An berufspolitischen Aktivitäten ist von ihm nur eine Fahrt in den 1970er-Jahren ins Bonner Gesundheitsministerium überliefert, gemeinsam mit Horst Eberhard Richter, seinem politisch wesentlich aktiveren Gießener Kollegen und Konkurrenten. Politik interessierte ihn eher theoretisch als praktisch, besonders Fragen der Demokratie und des Nationalsozialismus, unter dem er aufgewachsen war.

Viele wissen, dass Helm Stierlin sich als Therapeut und Forscher vor allem mit psychotischen und psychosomatischen Störungen beschäftigte. Weniger bekannt ist, dass seine Doktorarbeit sich mit Gewalttaten von Patienten gegen ihre Behandler befasste, und dass er einige seiner therapeutischen Konzepte in der Beschäftigung mit jugendlichen „Runaways“ entwickelte – also jungen Wegläufern von zuhause, mit denen zahlreiche DGSF Mitglieder heute in Einrichtungen der Jugendhilfe arbeiten.

Stierlins theoretische Konzepte haben meist eine psychoanalytische Wurzel –  etwa die „Delegation“ – sind von ihm aber seit Ende der 1970er-Jahre systemtheoretisch weiterentwickelt worden. So gilt u. a. die „bezogene Individuation“ mit ihren Formen der „Individuation mit“ und der Individuation gegen“ zahlreichen jüngeren Systemikerinnen als vielfältig verwendbare Denkfigur für Systemprozesse in Paaren, Familien und Organisationen.

Den Mehrgenerationsansatz hat vor allem seine Frau Satuila, eine bei Jean Piaget in Genf promovierte Psychologin, in ihren Genogrammanalysen weiterentwickelt. Seine Tochter Larissa wurde eine bekannte Kommunikationspsychologin im Netzwerk der Schulz-von-Thun-Gruppe, seine Tochter Saskia eine tatkräftige Notfallmedizinerin, die sicher viel dazu beitrug, dass Stierlin das biblische Alter von 95 Jahren erreichte.

Es hat in den 1980er- und 1990er-Jahren nicht an Kritik gegenüber Helm Stierlin gefehlt. Psychoanalytiker waren erbost über seine Wende zur Systemtheorie als Leittheorie. Feministinnen waren erbost, dass er die Auswirkungen der sozioökonomischen Benachteiligungen von Frauen auf Paar- und Familienbeziehungen selten thematisierte

und auch nur selten Frauen in den Kreis seiner engen Mitarbeiter einlud

. Gestalt- und andere humanistische Therapeutinnen fanden seinen Therapiestil allzu kognitiv-rational, seine Sicht auf den Ausdruck von Emotionen als eine Sonderform von Beziehungsbotschaften allzu gefühllos.

Das ganze Systemische Feld hat Helm Stierlin viel zu verdanken, mittelbar damit auch die DGSF, obwohl Helm Stierlin in ihr nicht aktiv war. Sein Entdeckergeist, seine Neugier, seine Weltoffenheit haben sich auf die von ihm mitentwickelte systemische Therapie übertragen. Seine behutsame, nicht belehrende, ermunternde und fördernde Haltung hat viele Jüngere nicht nur in seinem engeren Arbeitsumfeld ermutigt, kontinuierlich eigene therapeutische und theoretische Wege zu suchen und zu gehen. Möge diese Entwicklung so weitergehen! – auch nach seinem Tod, auch in der DGSF.

Jochen Schweitzer
Mitarbeiter bei Helm Stierlin in den Jahren1980/81 sowie von 1989 bis 1991