10 Jahre Systemische Kinder- und Jugendhilfe im Dialog - ein Veranstaltungsbericht

Ein Veranstaltungsbericht von Klaus-Peter Langner      

Unter dieser Überschrift lud die regionale Arbeitsgruppe „Systemische Kinder- und Jugendhilfe am Mittwoch, 21.11.2018, zum nunmehr 10. (!) Mal in die Schwerter Rohrmeisterei alle an systemischer Kinder- und Jugendhilfe Interessierten zu einem Vortragsabend ein. Die Referentin des Abends, Anke Lingnau-Carduck, arbeitet seit Gründung der Gruppe aktiv in der Gruppe mit und übernahm bereits zum zweiten Mal auch die Referentinnenrolle. Und weil das Ereignis gebührend gefeiert werden sollte, hatte sich die Gruppe diesmal etwas Besonderes und einige Überraschungen einfallen lassen. Im Vorfeld hatte sie alle bisherigen Referenten und Referentinnen um eine kurze Video-Botschaft gebeten, die einen Zusammenhang zwischen dem eigenen Vortragsthema und dem Thema des Abends herstellen sollte. Aus den eingesandten Video-Clips wurde ein kurzer Film erstellt, der dem erstaunten Auditorium dann so manches unverhoffte Wiedersehen mit den früheren Vortragenden schenkte: Prof. Johannes Herweg-Lempp, Prof. Liz Nicolai, Michaela Herchenhan, Prof. Jochen Schweizer, Anke Lingnau-Carduck und Alexander Korritko grüßten die Anwesenden und schnell wurde klar, dass alle vorherigen Vortragsthemen enge Berührungspunkte zum Thema des Abends aufwiesen.

  • Professor Johannes Herweg-Lempp (2008) betonte die Bedeutung der „Gelben Karte“ zur Verbesserung der Kommunikation zwischen Familien und Helfersystemen. Es komme immer wieder vor, dass Familien in Hilfeplanungen die Fachleute einfach nicht verstehen könnten, weil diese in ihrer (häufig mittelschichtlich geprägten elaborierten) Sprache reden würden, die von den Familien aber nicht verstanden werden würde.
  • Professorin Elisabeth Nicolai (2009) sagte: „Wenn Ihr einen systemischen Blick auf Kinderschutz und Zwangskontexte und auf Resilienz werfen wollt, so denkt an die Risiko-Faktoren, die durch Emmy Werners Kauai-Forschungen entdeckt worden sind, und auch an die protektiven Faktoren. Dann könnt Ihr nicht nur schnell eine prozessuale Verlaufsanalyse bilden, sondern da habt Ihr auch gleichzeitig eine Quelle von verschiedenen Handlungsansätzen parat. Und wem es gelingt, die sieben Faktoren der Resilienz auch unter den Bedingungen im Zwangskontext zu stärken, dann habt Ihr gute und hilfreiche Haltungen zu den Kindern und ihren Eltern entwickelt!“
  • Professor Dr. Matthias Ochs (er konnte aus Zeitgründen keine Videobotschaft senden): „Gemeinsam sind wir sta(ä)rk(er)! – Kooperation als Wirkfaktor und Kernkompetenz  systemischen Arbeitens in der Jugendhilfe“ und ein systemischer Blick auf Kinderschutz und Zwangskontexte. Das ist ein langer Text. Aber auch treffend. Denn gerade in der systemischen Arbeit im Kinderschutz und in Zwangskontexten ist es unumgänglich, mit anderen zu kooperieren. Dabei wirken systemisch arbeitenden Sozialarbeiter/-innen in der Jugendhilfe für Eltern auch als Vorbild in verbindlicher, wertschätzender, ressourcenorientierter Kommunikation. Kooperiert werden muss aber auch mit anderen Sozialagenturen, allen voran mit Familiengerichten, anderen Jugendämtern, Pflegekinderdiensten, Heimeinrichtungen, mit der Polizei und evtl. mit anderen freien Trägern. Ich bin sicher, dass Euch viele weitere Kooperationspartner einfallen, wenn Ihr einen Augenblick darüber nachdenkt, mit wem Ihr immer im Kinderschutz zu tun habt. Und diese Kooperationen gilt es, partnerschaftlich und verbindlich zu gestalten. Dafür und für den weiteren Abend und dem Vortrag von Anke wünsche ich Euch viel Erfolg und viele neue Erkenntnisse! Euer Matthias Ochs!“
  • Dr. Julika Zwack (2012): Hier gelang die technische Übertragung leider nicht, aber sie antwortete in diesem Sinne: „Selbstachtsamkeit im Beruf und ein systemischer Blick auf Kinderschutz und Zwangskontexte: dieser Zusammenhang liegt klar auf der Hand. Wer im Kinderschutz unterwegs ist und im Zwangskontext arbeiten muss, der ist gut beraten, mit sich selbst in Kontakt zu sein, die eigenen Grenzen gut zu kennen und für sich sorgen zu können. Denn nur wer für sich selbst sorgen kann, kann sich auch um andere sorgen, um Kinder und um deren Eltern. Achtsamkeit ist dabei ein ständiges Erfordernis: es richtet sich immer auf Euch selbst, aber auch auf die anderen, mit denen Ihr arbeitet und auf den Kontext. Achtsamkeit bedeutet auch, die Freiheit des Handelns zu behalten. Gerade bei „unmotivierten“ und provozierenden Klienten ist Selbstachtsamkeit das Fundament.“
  • Professor Jochen Schweitzer (2013): „Ich habe Euch damals in meinem Vortrag über ‚Veränderungen! Betrachtungen dynamischer Prozesse aus systemischer Sicht – Einladung zu einer inspirierenden Annäherung‘ mitgenommen in die Weiten der Mathematik, der Geometrie und der Systemtheorie. Aber was immer ich Euch über Synergetik (das ist die Lehre vom Zusammenwirken von Elementen gleich welcher Art, die innerhalb eines komplexen Systems miteinander in Wechselwirkung treten) erzählt habe, Familien im Kinderschutz, mit denen Ihr in Zwangskontexten arbeiten müsst, sind Veränderungen gewohnt. Vielleicht fürchten sie sie, vielleicht sehnen sie Veränderungen auch herbei. Vielleicht seid Ihr es aber auch, die die Arbeit in Zwangskontexten fürchten, weil sie aus vielerlei Gründen Euch schwierig oder unheimlich erscheinen. Dann wäre es gut, wenn Ihr über Veränderungen nachdenken würdet. Ich wünsche Euch dabei gutes Gelingen! Grüße aus Heidelberg! Euer Jochen Schweitzer-Rothers!“
  • Michaela Herchenhan (2013) gestaltete den Abend gemeinsam mit Jochen Schweitzer. Einige erinnern sich bestimmt an den Beginn des Abends, an das Speed-Dating! Die Frage damals lautete: „Was wollen sie in Ihrer Familie bis Weihnachten am dringendsten erledigen?“ Gerade in Familien im Kinderschutz und mit Zwangskontexten steht ja Veränderung im Raum. Besonders in Erinnerung bleiben sicher Michaela Herchenhans Ideen zur positiven Konnotation der vier von Virginia Satir beschriebenen Überlebenshaltungen.
  • Anke Lingnau-Carduck (2014): Sie beschrieb mit vielen Beispielen eine Fülle von möglichen systemischen Haltungen in Beratung, Coaching und Therapie und verdeutlichte damit einem kritischen und wissbegierigen Publikum die Essentials systemischer Arbeit.
  • Alexander Korittko (2015): Er ermöglichte mit seinem Referat vor über 230 Zuhörern/-innen allen einen systemischen Blick auf Kinderschutz und Zwangskontexte, der auch Aspekte trauma-sensibler Pädagogik einbezog und stellte heraus, dass traumatischer Stress bei Kindern häufig extreme Phänomene von Über- oder Untererregung hervorbringt. Kinderschutz auch in Zwangskontexten bedeute daher die Notwendigkeit, einen zuverlässigen Beziehungsrahmen mit Maßnahmen der inneren und äußeren Stabilisierung zu schaffen. Dann könnten Kinder ein inneres Gleichgewicht und damit Genesung erlangen.
  • Dr. Mirko Zwack (2016) trug vor zum Thema: Erfolgreich scheitern (vom Nutzen vermeintlicher misslungener Prozesse) und ein systemischer Blick auf Kinderschutz und Zwangskontexte: Von Anna Freud stamme der Satz: Im Kinderschutz kommt man immer zu früh oder zu spät. Diese bittere Erkenntnis impliziere ja bereits das Scheitern im Handlungsprozess des Kinderschutzes im Zwangskontext. Aber wann ist ein Prozess gescheitert, misslungen? Und ist die Sicht des oder der Verantwortlichen im Kinderschutz auf den Prozess die einzig „richtige“ oder gibt es auch andere Sichtweisen? Er appellierte an das Auditorium: Ihr müsst auch die Früchte Eurer Niederlagen ernten können. Und denkt dran: Sorgen ertrinken nicht im Alkohol; sie können schwimmen.
  • Ansgar Röhrbein (2017): Sein Thema war das „(Über-) Leben in unsicheren Zeiten“. Mit einem Parforceritt durch zentrale Begriffe des Kinderschutzes (Bindung, Schutzfaktoren, Salutogenese, Resilienz und Selbstwert) machte er den anwesenden Mut, sich auf das Abenteuer des professionellen Erziehens, Helfens und Betreuens immer wieder einzulassen und legte damit gleichzeitig die Grundlagen für die Betrachtung helfender Beziehungen in Zwangskontexten.

Auf diese Art und Weise eingestimmt freute sich die Zuhörerschaft auf das Grußwort des DGSF-Vorstandes, das zu entrichten die Fachreferentin für Jugendhilfe/-politik und Soziale Arbeit, Birgit Averbeck, übernommen hatte. Birgit Averbeck, die gemeinsam mit Enno Hermans, dem gegenwärtigen Vorsitzenden der DGSF, einige Jahre auch in der „Rohrmeisterei-Gruppe“ mitarbeitete, überbrachte die Grüße des Vorstandes und der Geschäftsstelle und freute sich mit dem Auditorium über die am Vortag bekanntgewordene Entscheidung des G-BA zur Anerkennung der Systemischen Therapie als psychotherapeutisches Verfahren. Sie wagte eine Prognose in Bezug auf die Auswirkungen der Anerkennung auf die systemische Kinder- und Jugendhilfe und drückte ihre Hoffnung aus, dass auch unser Bereich durch die Anerkennung eine deutliche Aufwertung im professionellen Miteinander der methodischen Ausrichtungen erfahren würde. Gleichzeitig gab sie einen kurzen Überblick über die gegenwärtig auf Bundesebene stattfindenden Diskussionsprozesse zur „großen Lösung“.  Für die aufmerksame Zuhörerschaft, die sich in den verbandlichen Prozessen kaum auskennt, wurde damit einmal mehr deutlich, wie wichtig für die systemische Kinder- und Jugendhilfe die Präsenz unseres Verbandes in den Diskussionsforen in Berlin ist.

Bevor aber die Referentin des Abends das Wort ergreifen konnte, wurde mit Liesel Polinski eine in Schwerte lebende und arbeitende Sozialarbeiterin geehrt, deren Wirken weit über die Stadt hinausreicht: Liesel Polinski ist Mit-Begründerin des „PEKiP“, Eingeweihten als „Prager-Eltern-Kind-Programm“ bekannt. Überall in der Republik können in Familienbildungsstätten und ähnlichen Einrichtungen Eltern nach Anleitung ihre vier Wochen bis zum ersten Lebensjahr alten Babys in ihren Entwicklungsmöglichkeiten durch Anregungen und Spiele fördern und den Dialog zwischen den Kindern und ihren Eltern stärken. Das PEKiP ist eine wunderbare Möglichkeit, die Kommunikation zwischen Babys und ihren Eltern zu fördern. Inzwischen hat sich unser Ehrengast dem anderen Ende der Lebenslinie zugewandt: Liesel Polinski arbeitet seit einiger Zeit in einer Kinderhospiz-Initiative und begleitet Kinder und Eltern in der Sterbephase des Kinderlebens. Aktuell ist gerade ein Bilderbuch, für das sie die Texte geschrieben hat, erschienen. Der Applaus für Liesel Polinski war dann auch lang und begeistert.

Eine weitere Ehrung wurde Katrin Krüger und Birgitta Nicolas zuteil: Katrin Krüger arbeitet freiberuflich in Schwerte, aber auch im Bergischen und im nahen Rheinland und vermittelt insbesondere Marte Meo-Aspekte in Kindertageseinrichtungen. Auch dieser Ansatz, bekannt geworden durch ihre Begründerin, der Niederländerin Maria Aarts, setzt sich zum Ziel, die Kommunikation und somit auch die Beziehungen zwischen Eltern und ihren (kleinen) Kindern zu verbessern. Frau Krüger begeistert durch ihre lebendige und freundliche Art, die Marte Meo-Anliegen zu vertreten. Und sie hat mit Birgitta Nicolas eine kongeniale Zeichnerin und Grafikerin an ihrer Seite: gemeinsam haben sie inzwischen 38 Gefühlskarten herausgegeben, auf denen Elefanten mit den jeweiligen Gefühlsausdrücken zu bestaunen sind. Die Karten laden sehr zum „mit-fühlen“ ein und können daher wunderbar in die Arbeit mit Kindern, Jugendlichen und Familien einbezogen werden. Auch diesen Ehrengästen wurde langer Applaus bereitet. Alle drei Geehrten hatten Stände aufgebaut, an denen sie nach dem Vortrag über ihre jeweilige Arbeit berichteten.

Und dann war es soweit: Anke Lingnau-Carduck konnte mit ihrem Vortrag beginnen. Im ersten Bild ihrer Präsentation wurde bereits das Dilemma des Themas deutlich: auf einem Mühle-Brett war eine Zwickmühle aufgebaut: Schwarz war klar im Vorteil und konnte Zug um Zug eine Mühle öffnen und gleichzeitig schließen. Das Ende von Weiß wäre in wenigen Zügen zu erwarten. Der Untertitel jedoch lautete: Wie bewegen wir uns zwischen riskanten und sicheren Orten? In dieser Fragestellung lag bereits wieder eine Hoffnung, die neugierig auf das nun Folgende machte. „Alles, was Du brauchst, um eine Zwickmühle aufzulösen, ist der Mut, Veränderungen zu erlauben. Dann wird die Antwort zu Dir kommen“. Auf diese Art in das Thema einführend, beschrieb die Referentin die Reiseroute, dies sie in der kommenden Stunde mit dem Auditorium einschlagen wollte. Zuerst würde sie uns zu sicheren und riskanten Orten führen, dann auf Ressourcenorien-tierung und De-Konstruktion von Zwangskontexten hinweisen, die Aussagen einiger Experten zitieren, eine Sammlung von Ambivalenzen beschreiben und schließlich Wirkfaktoren isolieren und Chancen im Zwangskontext und Kinderschutz benennen. Die Reiseroute würde uns durch verschiedene Länder und Kontinente führen zu sehr verschiedenen Menschen, die unabhängig voneinander Ideen entwickelten, die wir heute als Basis unserer systemischen Erkenntnisse, Haltungen und Handlungen verorten. Die (im übertragenen Sinne) riskanten Orte seien uns bekannt und vertraut, würden viel Kraft und Mut erfordern, sich ihnen zu stellen und würden unsere Ressourcen binden, wir würden ihre Gefahren kennen und auch um die zwischenmenschlichen Bedürfnisse wissen, die zu wecken sie in der Lage sind. Die sicheren Orte dagegen seien uns ebenfalls bekannt und vertraut, sie würden uns wohltuende Wahrnehmungen ermöglichen und böten Schutz und Unterstützung. Außerdem seien sie Startpunkt für Veränderung.

Die Referentin unterscheidet vier Ebenen der Ressourcenorientierung, die biologischen, die psychischen, die sozialen und die spirituellen Ressourcen, untergliedert sie und beschreibt einige Wirkungen von Ressourcenaktivierung: sie würde das Selbstwert- und Selbstwirksam-keitsgefühl stärken, dabei helfen, eigene Grenzen zu erkennen und neues Vertrauen in eigene Möglichkeiten zu finden. Und jetzt kommt es zu einem bewegenden Moment im Saal: die vorher von der Referentin auf jeden Sitz gelegten künstlichen Schmetterlinge sollen auf die flache Hand gelegt und betrachtet werden. Und schon geht ein erfreutes Raunen durch den Saal, denn alle Schmetterlinge auf den Händen bewegen sacht ihre Flügel. „Da schau, wie er sich bewegt.“ Doch schon bald ist dieser zauberhafte Moment vorüber und Anke Lingnau-Carduck führt uns zum Zwang und fragt sich und uns, ob das ein riskanter Ort sei? Immerhin ist er mit Attributen wie Unfreiwilligkeit, Zwickmühle, Angst und Hoffnungslosigkeit behaftet. Und sei dagegen Kontext ein (vermeintlich) sicherer Ort? Er würde mit Unterschieden, Freiheit, Möglichkeiten, Resilienz, Netzwerken und Sicherheit assoziiert.

Und dann besucht die Referentin gemeinsam mit den Zuhörenden verschiedene Orte auf ihrer Reise: erst verweilt sie in Schwerte und schaut auf die zehn Jahre Kinder- und Jugendhilfe im Dialog, also der Veranstaltung, in der wir uns gerade befinden, verweist auf die Berichte der früheren Referenten und benennt die Themen als Ressource, nimmt die Zuhörerschaft dann mit nach Berlin in ein Bundesforum für Familien, beschreibt die Hilflosigkeit, die sie dort wahrnimmt als Reaktion auf rechte Tendenzen, bleibt in Berlin bei Marie-Luise Conen und zitiert sie (2004): „ (…) Klienten in Zwangskontexten haben in aller Regel eine Scheiternsgeschichte mit Veränderungsbemühungen und zeigen daher eine nachvollziehbare Skepsis gegenüber Veränderungsverheißungen von Helfern. Das Würdigen und Achten dieser Skepsis erfordert Zeit, die man eigentlich nicht zu haben glaubt, es lohnt sich jedoch meist.“ Dann folgt das Auditorium der Vortragenden nach Heidelberg, zu Dr. Gunter Schmidt, der mit dem Verweis auf das „polynesische Segeln“ eine Metapher für ein nicht-kausales Vorgehen beschreibe, welches erstaunliche Ergebnisse erziele, die Salutogenese in Beratung und Therapie unterstreiche. Von Heidelberg aus geht es nach Aurachtal zu Michaela Herchenhan: sie (die 2013 gemeinsam mit Jochen Schweitzer zum Thema „Veränderungen“ in Schwerte vortrug und dabei eine wunderbar positive Konnotation der vier Grundtypen aus Virginia Satirs ‚Selbstwert, Kommunikation und Kongruenz‘ vorstellte) schrieb ein Jahr zuvor: „Klienten verhalten sich grundsätzlich kooperativ. Es können sich lediglich die Zielvorstellungen, die sie mitbringen, von denen der anderen unterscheiden (…). Aufgabe der Berater ist es, die jeweilige Form der Kooperation der Familien zu erkennen und damit würdigend und zielorientiert umzugehen.“

Es ist still im Saal. Die Blicke sind nach vorn auf die Vortragende gerichtet und es wird konzentriert zugehört. Wir reisen gemeinsam nach Wuppertal. Hier wird gerade die Rückführung von Kindern in ihre Herkunftsfamilien vorbereitet und das Auditorium nimmt Anteil am Geschehen, denn das birgt das Risiko des Scheiterns des Prozesses und damit weiterer Beziehungsabbrüche für die Kinder und auch die Überforderung von Familienmitgliedern. Sicherheit finden Familie und Helfer gemeinsam in der Aktivierung der Bindungssysteme, der Verankerung von Ressourcen und der Schaffung von Zugehörigkeit und Verbundenheit. Und weiter geht es in das Rheinland, nach Viersen, in die kinder- und jugendpsychiatrische Klinik, in der Wilhelm Rotthaus viele Jahre gearbeitet hat: „Ein gut organisierter Zwangskontext kann eine sehr nützliche Voraussetzung für Beratung und Therapie sein (…). Damit aber unter solchen Bedingungen eine gute Arbeit möglich ist, muss der Zwangskontext klar strukturiert sein.“ (2016).

Aus dem Rheinland reisen wir alle gedanklich nach Marokko, in ein abgeschieden liegendes Dorf, in der eine einander liebende Großfamilie lebt, aus der ein Mitglied nach Deutschland entführt wird, ohne Rückkehrmöglichkeit und das hier Risiken wie Gewalt in der Erziehung, Analphabetismus, Patriarchat und darin die Rolle der Frau erleben musste. Sicherheiten boten der jungen Frau ihre Erinnerung an die Heimat, an die Liebe, die familiäre Zusammengehö-rigkeit, an Speisen, Gerüche, Klänge. Die junge Frau sei eine kompetente Expertin im Umgang mit Unfreiwilligkeit geworden und konnte Hoffnung, Zuversicht und eine Zukunfts-perspektive entwickeln.

Von Marokko aus geht es zu einer chronischen Erkrankung in einer Familie, die aus Kasach-stan stammt: hier sind die Isolation, die Fremdheit und der Rückzug Risiken im Prozess. Sicherheit geben der Familie Stimmen aus der Heimat, den eigenen Werten und der eigenen Überzeugung zu folgen und selbstbestimmte Entscheidungen zu treffen: „Es ist so schwer auszuhalten, das man mir als Mutter unterstellt, ich würde nicht ALLES dafür tun, um das Leben meines Kindes zu retten! Hätten wir Sie nicht getroffen, so wären wir alle an den hohen Anforderungen und dem fehlersuchenden Blick der Ärzte zerbrochen. Nicht alleine zu sein und jemand vom Fach an unserer Seiter zu haben, der nichts beschönigt und trotzdem bleibt, hat uns geholfen eine gute Lösung als Familie zu finden.“

Aus dem kasachischen Kulturkreis reist die Referentin mit ihrer Zuhörerschaft in das soziale Kontinuum, das Roma-Familien bei uns umgibt: die Risiken im Zwangskontakt mit ihnen liegen in der tradierten mehrgenerationalen Ausgrenzung und in Vorurteilen dieser Volksgruppe gegenüber, die länderübergreifend seien. Sicherheit würde geboten durch Offenheit, Neugier und auch Neutralität. Friedemann Riebe sagt dazu: „Denn gerade in dieser speziellen Kultur ist es wichtig, eine systemische Haltung einzunehmen, was praktisch bedeutet, Neutralität zum Problem, Offenheit und Neugier zu entwickeln, sowie auch unbequeme und überraschende Gedanken und Hypothesen zu verfolgen. So bietet sich vielleicht die Chance, Neues zu entwickeln und Änderungen anzuregen, welche nicht schon zu Beginn abgenutzt sind.“ (2015)

Weiter geht die Reise, jetzt zu Virginia Satir in die USA. Sie kann zum Thema Kinderschutz und Zwangskontexte ihre Sicht auf den Umgang mit Gefühlen beitragen: die Risiken lägen bei der Verleugnung unangenehmer Gefühle und im geringen Selbstwert. Sicherheit könne geschaffen werden durch die Wahrnehmung und die Kommunikation aller Gefühle. So werde Kontakt und Verbindung geschaffen und Kongruenz erreicht: „Zum Leben gehören sowohl angenehme als auch unangenehme Gefühle. Wenn wir die unangenehmen verleugnen, steht uns nur ein Bruchteil unserer Energie zur Verfügung. Kongruenz gestattet uns ein Maximum an persönlicher Kraft, um unser Leben wirksam meistern zu können. Daher ist kongruentes Kommunikationsverhalten dazu in der Lage, Brücken zwischen den Menschen zu schaffen, da wir alle den Schmerz der Ablehnung kennen.“ (1984) Die Referentin verweist zusätzlich auf die fünf Freiheiten, die Satir formuliert hat und begibt sich gedanklich mit der Zuhörerschaft auf die Rückreise.

In London macht die Rohrmeisterei noch einmal Station bei Eia Asen. Er beschreibt beim Thema Kinderschutz und Zwangskontexte als Risiko die eingeengte Sichtweise für sich selbst. Sicherheit verschaffe der Zugang zu den eigenen Ressourcen und dass die Familie auf bekanntem Gebiet agiere: „Es ist eine allgemeine Erkenntnis, dass Menschen in Konfliktsituationen für das eigene Problem meist eine eingeengte Sichtweise haben, aber eine hohe Sensitivität für ähnliche Probleme bei anderen. Diese menschliche Besonderheit kann in der Arbeit mit mehreren Familien genutzt werden, wenn systemisch eine Gruppenatmosphäre mit gegenseitiger Anteilnahme, mit Verstehen und Transparenz geschaffen wird.“ (2009)

Nach dieser gedanklichen Rundreise durch viele Kinderschutz- und (Zwangs-) Kulturen landet die Referentin mit ihrer Zuhörerschaft wieder in der Rohrmeisterei. Hier warten noch die Ambivalenzen und die Wirkfaktoren auf das Auditorium, die aus den jeweiligen Rollenblickwinkeln präsentiert werden. Und es wäre nicht systemisch, wenn die Vortragende nicht auf Chancen, die sich im Zwangskontext bieten, hinweisen würde: „Im Zwangskontext liegt die Chance, für die wichtigste Organisationseinheit unserer Gesellschaft – nämlich die Familie – ein selbstwirksames, wohlwollendes und entwicklungsförderndes Klima zu schaffen. Dabei ist es wichtig, achtsam mit unserem größten gesellschaftlichen Gut – den Kindern und Jugendlichen, umzugehen“. Sabine Kuhn, 2013) 

Der Vortrag endet mit Murmelgruppen, von denen rege Gebrauch gemacht wird. Nach über einer Stunde Zuhörens liegt etwas Erschöpfung über den Anwesenden. Dennoch gibt es anschließend noch eine nachdenklich gestimmte Fragerunde an die Referentin, deren engagierter Vortrag regen Beifall auslöste.

Der Abend klang aus mit vielen Gesprächen an den Tischen der Ehrengäste, am Büchertisch des Bücher-Uwe, der wie bei den früheren Veranstaltungen wieder dicht umlagert war und auch am Stand der Referentin, die das von ihr entwickelte Material zur Arbeit mit Familien und Gruppen ausstellte. Und auch Shed e.V., ein freier Träger der Kinder- und Jugendhilfe („Systemische Kinder- und Jugendhilfe für alle Fälle“) aus Wuppertal, stellte viele Materialien aus.

Nach dem Ende der Veranstaltung, im kleinen Kreis der Aktiven, wurde noch lange über den Abend und über die vorangegangenen neun Veranstaltungen gesprochen. Ein Fazit unter vielen war: „Es hat sich gelohnt, all das zu organisieren!“

Dortmund, 11.12.2018