Multifamilientherapie verbindet

Multifamilientherapie verbindet – Familien, Schule, Klinik und Jugendhilfe

6. Jahrestagung Multifamilientherapie an der schleswig-holsteinischen Ostseeküste

„Horizonte erweitern – Netzwerke stärken“ war das treffende Motto der 6. Jahrestagung des Arbeitskreises Multifamilientherapie (MFT) der Deutschen Gesellschaft für Systemische Therapie, Beratung und Familientherapie (DGSF), die vom 21. bis zum 23. Mai 2014 in Damp an der schleswig-holsteinischen Ostseeküste stattfand.

Ulrike Behme-Matthiesen, Thomas Pletsch und Martin Jung von der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Helios Kliniken in Schleswig hatten die zweieinhalbtägige Tagung mit tatkräftiger Unterstützung ihrer Kolleginnen und Kollegen vorbereitet.

Mit über 260 Teilnehmerinnen und Teilnehmern aus allen Teilen Deutschlands, der Schweiz, Dänemark und Schweden war die Tagung wegen der großen Nachfrage schon Wochen vor Beginn ausgebucht.

Frühsommerliche Temperaturen und strahlender Sonnenschein luden am Rande der Vorträge und Workshops zu Gesprächen in den Cafés und auf der Strandpromenade von Damp ein.

Die Veranstaltung war so gestaltet, das es in zahlreichen Workshops und Foren (Klinik, Schule, Jugendhilfe, Forschung, Literatur) die Möglichkeit gab, die unterschiedlichen Arbeitsbereiche kennen zu lernen. Ein super Konzept, dass allen die Möglichkeit bot mal über den Tellerrand hinaus blicken!

Und dann gab es auch noch drei interessante Vorträge.

Die Vorträge

Filip Caby, Aschendorf, Autor der „kleinen Psychotherapeutische Schatzkiste“, stellte die Arbeit mit Familien an der Kinder- und Jugendpsychiatrie am Marienkrankenhaus vor.

Die auf Tom Andersens Idee der reflektierenden Teams beruhende Arbeit mit Eltern, Jugendlichen und Therapeuten sei sehr wirkungsvoll und steigere die Fähigkeiten der Familien eigene umsetzbare Lösungen zu finden.

Michael Scholz, Dresden, Vorsitzender des Arbeitskreises MFT in der DGSF, hob in seinem Vortrag die wichtigsten Wirkfaktoren der MFT hervor: Hoffnung wecken, Solidarität erleben, neue Perspektiven einnehmen, Voneinander lernen, usw. (Asen & Scholz, 2012).

Er erinnerte an die Bedeutung der therapeutischen Beziehung als dem wichtigsten Wirkfaktor in der Psychotherapie und diskutierte die anspruchsvolle Aufgabe des Therapeuten in der MFT Kontexte zu gestalten, die gute Beziehungen zu allen Beteiligten ermöglichen.

Auch Björn Enno Hermans, Essen, bezog sich in seinem Vortrag auf die Besonderheiten der Rolle des Therapeuten in der MFT, der vor allem die Expertise der Familien nutzbar macht und für einen geeigneten wertschätzenden Kontext in der Gruppe sorgt und hob die MFT von anderen systemischen Verfahren und Settings ab.

Sich im Schonraum ausprobieren können, Selbstwirksamkeit erleben, Hoffnung verspüren und „für andere die Hoffnung erfinden“, sind wohl einige der wichtigsten Wirkfaktoren der MFT.

Schule

Mein besonderes Interesse galt den Vorträgen und Workshops aus dem Bereich Schule, da ich mich in meiner Arbeit am Landesförderzentrum Sehen, Schleswig (LFS) vor allem im (sonder-)pädagogischen Kontext Schule bewege. Das LFS unterstützt die Entwicklung eines inklusiven Schulsystems und bietet Kindern und Jugendlichen mit einer Sehbeeinträchtigung oder Blindheit sowie ihren Lehrkräften und Familien Unterstützung und Beratung wohnortnah an allen Schularten in Schleswig-Holstein. Ich war neugierig zu erfahren, wie das zurzeit in der Schule so brennende Thema Inklusion in den Workshops und Foren von Kolleginnen und Kollegen aus den Bereichen Klinik und Jugendhilfe diskutiert werden würde.

Im Kontext Schule wird anstatt von MFT eher von Multifamilienarbeit (MFA) gesprochen. „Familie in Schule“ (FiSch) gilt ja eher als (präventive) Arbeit. Eintrittskarte ist hier nicht eine klinische Diagnose, sondern die begründete Sorge der Lehrkräfte um die Kinder, die durch ihr nicht konformes Verhalten in der Schule den Anschluss verlieren.

Heike Petersen, Schleswig, berichtete über die sehr günstigen Rahmenbedingungen der FiSch Arbeit im Kreis Schleswig-Flensburg, wo Schulamt und Fachdienst Jugend und Familie gemeinsam für die Finanzierung sorgen. Auch der Schulpsychologischen Dienst des Kreises unterstützt die Arbeit. Tolle Voraussetzungen, die sich andere Kreise und Bundesländer sicher so wünschen würden.

In den letzten Jahren haben sich weitere FiSch-Standorte an Schulen des Kreises gebildet, die jährlich mit etwa 140 Kindern und  ihren Familien arbeiten.

In einer Gesprächsrunde vor dem Plenum befragte Heike Petersen Eltern, Großeltern, und Lehrkräfte, Eltern-Coaches und Therapeuten, über ihre Erfahrungen mit der MFA. Interessant waren die Stellungnahmen der Kinder, die ihre Ansichten in einfachen, klaren Worten - eingespielt in Videos– zum Ausdruck brachten. Die Beteiligten äußerten sich ausgesprochen positiv über die Resultate der Arbeit. Einige Vorschläge gab es auch: Die Abwesenheit des Schülers/ der Schülerin am FiSch Tag müsse den Mitschüler/-innen angemessen vermittelt werden, außerdem sollten alle Lehrkräfte des betroffen Schülers an einem Strang ziehen.

Bente Jürgensen, Flensburg, befasste sich mit der Evaluation der FiSch Arbeit im Kreis Schleswig-Flensburg. Über Interviews mit beteiligten Lehrkräften identifizierte sie Entwicklungsbereiche, die die Nachhaltigkeit der FiSch Maßnahmen sicherstellen sollen: So könnte die stärkere Einbindung aller Lehrkräfte des betreffenden Schülers (beispielsweise durch die Teilnahme an einzelnen FiSch Tagen) und durch Hospitation der Eltern in der Schule, die Kooperation noch weiter verbessern.

Dagmar Hilmer, Scharnebeck, Schulleiterin einer Grundschule erreichte für das dortige FiSch Projekt die Zusammenarbeit mehrerer Grundschulen. Auch sie berichtete als Ergebnis der FiSch-Arbeit von einer Verbesserung der Zusammenarbeit von Elternhaus und Schule.

Die aktuelle Debatte um ein inklusives Schulsystem wurde in den Workshops und Foren der Tagung engagiert diskutiert. Lisa Mohr, Bremen, vehemente Verfechterin des Inklusionsgedankens, beschrieb Multifamilienarbeit in ihrem sonderpädagogischen Arbeitsbereich als eine hervorragende Methode, Schule inklusiver zu gestalten. In ihrem engagierten Vortrag brachte sie Beispiele wie in einem multi-kulturell geprägten Arbeitskontext in den MFA Gruppen auch kulturelle Barrieren überwunden werden.

Die Kolleginnen und Kollegen vom Familiecenter Løvdal aus Helsingør in Dänemark, die schon sehr lange mit Multifamiliengruppen arbeiten, berichteten über ihre relativ neue Arbeit an Kitas und Kindergärten, die sie als „Familienstuben“ (dän. Familiestuen) bezeichnen. Man könne da gar nicht früh genug anfangen, so ihr Credo. Die Ergebnisse und die Resonanz auf das Angebot gibt ihnen Recht.

Klinik

Im Forum Klinik kamen z. B. die Familientagesklinik Koralle in Bernau bei Berlin, die Uniklinik Dresden, die mit essgestörten Patienten und ihren Familien arbeiten, sowie die Kolleginnen und Kollegen aus Lund in Schweden mit ihren Erfahrungen zu Wort.

Die MFT an der Villa Paletti, Tagesklinik in Flensburg, wurde von Heinz-Georg Löffler und Hans Jürgen Stufe, den Eltern und Kindern, die an den MFT Gruppen teilgenommen hatten vorgestellt.

Auch im klinischen Bereich gibt es inzwischen zahlreiche Studien zur Wirkung der MFT, von denen einige im Forum Forschung vorgestellt wurden.

Kerstin Klappstein vom Westküstenklinikum in Heide untersucht Entwicklungsprozesse von Frauen, die im Rahmen des klinischen Aufenthaltes ihrer Kinder, an der MFT teilnehmen. Die Auswertung der qualitativen Interviews wird sich nun darauf beziehen wie sich Kohärenzgefühl und Bewältigungskompetenzen der Mütter durch die Teilnahme an den MFT Gruppen verändern und welche Rolle die eigene Lebensgeschichte dabei spielt. Auf die Ergebnisse kann man gespannt sein.

Ulrike Röttger, Tagesklinik des Klinikums Magdeburg, präsentierte eine Evaluationsstudie zur Praxis der MFT an der dortigen Tagesklinik. Sie untersuchte die Veränderungen des Belastungserlebens von Eltern und Kindern sowie der familiären Beziehungen.

Die Analyse der Interviews mit den Eltern zeigte eine Verringerung des Belastungserlebens nach der Multifamilientherapie. Auch das Erleben der innerfamiliären Beziehungen zeigte bei den Jugendlichen eine positive Veränderung. Die Effekte blieben auch noch Monate nach Ende der Therapie stabil.

Jugendhilfe

In der Jugendhilfe wurde das Konzept der MFT von Beginn an aufgriffen. In Vorträgen und Workshops gaben Erfahrungsberichte verschiedener Einrichtungen Einblicke in die derzeitige Praxis. Familie e.V. Berlin. hat sich z. B. zum Ziel gesetzt mit Hilfe der MFT die Entwicklungsbedingungen der Kinder in Familien zu verbessern und Fremdunterbringung zu vermeiden und der Sozialdienst katholischer Frauen Essen-Mitte e. V. organisiert MFT-

Familienfreizeiten.

Workshops und Foren

In den zahlreichen Workshops und Foren am Donnerstag und Freitag zeigte sich die große Vielfalt der Arbeitsbereiche und methodischen Ansätze von MFT. Hier kamen auch die „Tooligans“ unter den Teilnehmer/-innen auf ihre Kosten.

Im Workshop von Klaus Eckart Zillessen, Weimar, beispielsweise fanden sich Kolleginnen und Kollegen zusammen, die mit Kindern und Jugendlichen mit unterschiedlichen Behinderungen und chronischen Erkrankungen arbeiten. Es zeigte sich, dass auch in diesem Arbeitsfeld MFA eine sinnvolle Unterstützung ist, um mit Erschwernissen zurecht zu kommen, sowie Isolation und Stigmatisierung zu überwinden.

Jürgen Hargens, Meyn, vielen bekannt als Gründer der Zeitschrift für systemische Therapie und Beratung und Autor zahlreicher Fachbücher, stellte sich im Forum Literatur als Autor von Romanen und Kurzgeschichten vor. In der Lesung einer seiner Kurzgeschichten waren die Bezüge zu seiner therapeutischen Arbeit nicht zu überhören.

Das musikalische Rahmenprogramm mit Barock Musik zu Beginn des ersten Tages und einer fulminante „Drum Session (Drum Circle)“ am Ende des ersten Tages mit verschiedenen Percussion Instrumenten unter Mitwirkung nahezu aller Teilnehmer/-innen hat sehr  zur guten Atmosphäre während der Tagung beigetragen.

Und auch nicht unwichtig; die Pausen zwischen den Workshops und Vorträgen, die an den weißen Stehtischen im Foyer und auf den sonnigen Terrassen reichlich Gelegenheit boten bei Kaffee und Tee die Themen des Tages zu reflektieren.

Fazit

Die klare Struktur der Veranstaltung mit Vorträgen, die spezielle Aspekte der MFT fokussierten, der großen Bandbreite an Workshops und der bereichernden Begegnung mit Kolleginnen und Kollegen aus den Bereichen Schule, Klinik und Jugendhilfe haben diese Tagung für mich zu einem Erfolg gemacht. Insgesamt ein umfassendes Bild der sehr dynamischen Entwicklung der MFT in Deutschland und Nordeuropa.

Dafür haben die Veranstalter Ulrike Behme-Matthiesen, Thomas Pletsch und ihre Kolleginnen und Kollegen gesorgt. Sie hatten ein Auge für den reibungslosen Ablauf und die gute Atmosphäre und waren bei Bedarf immer ansprechbar. Ein Übriges hat ein Hochdruckgebiet über Nordeuropa mit viel Sonnenschein und warmen Temperaturen beigetragen.

Die Tagung endete mit der symbolischen Übergabe des „Staffelholzes“ an die Ausrichter der nächsten - der 7. - Jahrestagung MFT 2015. Heidjer Schwegmann nahm das Holz im Namen des  Leinerstifts e. V. in Großefehn, Ostfriesland entgegen und lud die Teilnehmer/-innen ein, sich im Juni 2014 in Ostfriesland wieder zu treffen.

Heinz Graumann, Landesförderzentrum Sehen, Schleswig

22.06.2014