Präventive Hilfen für psychisch belastete Familien

Präventive Hilfen für psychisch belastete Familien

Dr. Michael Hipp führte die ca. 40 Zuhörer*innen mit engagiertem Vortrag und zahlreichen  Anregungen für die eigene Praxis durch den Fachtag „Präventive Hilfen für psychisch kranke Eltern“. Seine vielfältigen Erfahrungen als Arzt für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie im Umgang mit psychisch kranken Eltern in seiner Funktion als Leiter des Sozial-psychiatrischen Dienstes Hilden/Kreisgesundheitsamt Mettmann flossen ein in die Entwicklung eines Konzepts der engen Vernetzung von öffentlicher Jugend- und Familienhilfe und psychiatrischem Dienst. Den praktischen Niederschlag findet dies in gemeinsamen Fallbesprechungen beider Institutionen. Und zwar immer bevor Schutzmaßnahmen seitens des Jugendamts ergriffen werden und in der direkten Beteiligung des psychiatrischen Dienstes bei Eingriffen des Jugendamtes sowie drohender Suizidgefährdung oder Eskalation.

Mit markanten Formulierungen, die sich den Zuhörenden wie Merksätze einprägten, verdeutlichte er die aus seiner Sicht bedeutsamen Haltungen und das theoretisch und praktisch erforderliche Hintergrundwissen für eine konstruktive Arbeit mit Familien, die durch psychisch kranke Elternteile besonders belastet sind.

Beispiele:  

  • In Multiproblem-Familien, d. h. bei einer ihrer großen Klientelgruppen, haben es Sozialarbeiter*innen in der öffentlichen Jugendhilfe häufig auch mit psychisch stark belasteten bzw. psychisch kranken Eltern zu tun. 
  • Psychisch kranke/stark belastete Eltern müssen immer aus der aktuellen Eltern- und der früheren Kinderposition wahrgenommen werden! (D. h.: „Was haben sie selbst als Kinder erlebt, und wie nehmen sie heute ihre Elternaufgaben wahr?“).
  • Die Rolle von Sozialarbeiter*innen in der Jugend- und Familienhilfe ist zuerst die der „Sicherheitsbeauftragten“, danach erst die der „Entwicklungshelfer*in“ und später des „Cheerleaders“, die/der jeden Erfolg bestätigt. Das bedeutet, bereit zu sein für eine situative Kontaktgestaltung: „Wer mir gestern gegenüber saß, ist nicht unbedingt die Person, die mir heute gegenübersitzt!“
  • Sozialarbeiter*innen müssen, wenn sie mit diesen Familien arbeiten, selbst Halt haben, Halt geben und Haltung einnehmen!
  • Hilfe im Sinne der Jugendhilfe ist keine Therapie. Hilfe entlastet, sichert, stabilisiert. Wenn sie endet, ohne dass ggf. weitere therapeutische Unterstützung realisiert wurde, wird in diesen Familien das Problem höchstwahrscheinlich wieder akut!
  • Bausteine der Hilfe für psychisch kranke Eltern/Familien sind: Entlastung, Stabilisierung, Therapie, Interaktionsförderung usw.

Die Lebensgeschichten psychisch kranker Elternteile beinhalten nach Dr. Hipps Erfahrungen immer auch Traumatisierungen, entweder in Form von frühen Bindungstraumatisierungen (Vernachlässigung, Gewalt, Missbrauch, usw.) oder als massive spätere situative Traumatisierung (z. B. abrupte Beziehungsabbrüche oder Verlusterfahrungen ohne angemessene Hilfen zur Bewältigung, usw.). Das Erleben der eigenen Kinder und ihrer Bedürfnisse wirkt dann häufig als Trigger für das früher erfahrene Trauma und die damals erlebte Angst, Hilflosigkeit, Scham, Schuld, Verlassenheit, Wut und/oder innere Leere. Dies, in Kombination mit den damals entwickelten (im Wortsinne zu verstehenden) „Überlebensstrategien“, verhindert vor allen in Stresssituationen heute den eigenen Kindern ausreichend Schutz, Sicherheit und/oder Unterstützung zu geben. Solche Überlebensstrategien können beispielsweise sein: Übermäßiges Kontrollverhalten (Zwänge, „Ritzen“ und anderes selbstverletzendes Verhalten), Ablenken (z. B. durch exzessive Internetnutzung), Betäubung (z. B. mittels Alkohol, Medikamenten, Drogen), hilflose Abhängigkeit und Verleugnung in Beziehungen (z. B. auch vom gewalttätigen Ehepartner oder nicht wahrnehmen wollen, wenn die eigenen Kinder vom Partner oder anderen Bezugspersonen missbraucht oder misshandelt werden) oder Vermeidungsverhalten (z. B. wichtige Termine in Schule, Kindergarten, beim (Kinder)-Arzt oder dem Jugendamt nicht wahrnehmen bzw. Briefe von Behörden, Gläubigern usw. nicht öffnen).

Traumaaufklärung sei daher ein wichtiger Bestandteil der Beratung psychisch kranker Elternteile. Sie beginnt mit Fragen zur Lebensgeschichte, beinhaltet Fragen zum Selbstbild („Wie/was denken Sie über sich?“) und enthält als Kernpunkt die Vermittlung von Informationen über die Wirkung von frühen traumatischen Erfahrungen bis in die gegenwärtige Realität als erwachsene Mutter oder Vater. Eine solche Aufklärung ermöglicht es, sich selbst und die eigenen Reaktionsweisen besser zu verstehen. Erklärung und Verstehen wirken entlastend und reduzieren Scham, und damit auch den Impuls, sich zu verstecken. Auf dieser Grundlage ist es eher möglich, die Kommunikations- und Interaktionsfähigkeit dieser belasteten  Eltern zu unterstützen und zu fördern, d. h. die grundlegende Fähigkeit, überhaupt mit ihren Kindern in richtigen Kontakt zu gehen. Gelingt dies, kann der Stolz über das Erreichte das Bedürfnis auslösen, die eigenen Fähigkeiten auch vermehrt zu zeigen, was wiederum eine wesentliche Grundlage für eine hinreichend gute Beziehung zu den eigenen Kindern darstellt.

Eigentlich reichte die Zeit an diesem Fachtag nicht aus für die Fülle an Informationen und  das lebhafte Bedürfnis der Teilnehmer*innen nach Diskussion und Austausch. „Wir bleiben in Kontakt!“, war daher am Ende dieses Tages das von uns gerne angenommene Angebot von Dr. Hipp!  

 Bericht: Annegret Sirringhaus-Bünder

Zum Selbstporträt des Kölner Vereins für systemische Beratung e. V.