Systemisch auf Rezept?

Rund 150 Mitglieder von DGSF und SG sowie interessierte Gäste waren der Einladung der beiden Verbände nach Berlin gefolgt zur Veranstaltung „Systemisch auf Rezept?“. In der Berliner „Werkstatt der Kulturen“ gab es zunächst eine Einführung durch die Verbandsvorsitzenden und dann Impulsvorträge zu den möglichen Folgen und Auswirkungen einer sozialrechtlichen Anerkennung der Systemischen Therapie.

Kröten schlucken im Gesundheitssytem?

SG-Vorsitzende Ulrike Borst berichtete über ihre Erfahrungen als Systemikerin in der Psychiatrie und thematisierte zwei "Kröten", die im Gesundheitswesen zu schlucken seien: Diagnostik und die evidenzbasierte Medizin mit ihren RCT-Studien. Björn Enno Hermans, DGSF-Vorsitzender, skizzierte aus der Binnenperspektive der Verbände deren Aktivitäten im Rahmen der 2008 erfolgten berufsrechtlichen Anerkennung der Systemischen Therapie und der nun anstehenden Entscheidung über die sozialrechtliche Anerkennung. Der Einsatz der Verbände für die Anerkennung sei vor allem aus dem Gedanken der „Versorgungsgerechtigkeit“ motiviert, erläuterte Hermans. Es bleibe aber ein „hochambivalentes Thema“, auch weil an der Kassenversorgung nur Approbierte teilnehmen könnten.

„Schlaraffenland und/oder Haifischbecken?“ Jürgen Doebert berichtete von Spielregeln im Gesundheitswesen. Er schilderte die Einführung der Psychoanalyse als Kassenleistung und gab so einen Einblick in die Entwicklung der krankenkassenfinanzierten Psychotherapie in Deutschland. Auch in der Psychoanalyse habe es früher ein breites Berufsspektrum gegeben, ohne Behandlungsplan und Diagnosen habe man auf Selbststeuerung gesetzt. Mit der Kassenfinanzierung sei die „absichtslose Behandlung“ zu Ende gewesen – der „Analysand“ wurde zum Patienten. Dafür habe die Behandlung aber nicht mehr nur privilegierten Kreisen zur Verfügung gestanden, so Doebert.

Entspannter Umgang mit Diagnosen

Im Gesundheitssystem muss man gar nicht so viele Kröten schlucken. – Hans Schindler, approbierter Psychotherapeut mit Kassenzulassung, stellvertretender Präsident der Psychotherapeutenkammer Bremen und Mitglied von DGSF und SG, machte den Zuhörerinnen und Zuhörern Mut: Der Umgang mit Diagnosen sei gar nicht so problematisch, auch „auf Rezept“ könne man seinen systemischen Grundüberzeugungen treu und bei Hypothesen bleiben, statt nach Wahrheiten zu suchen.

Erhard Wedekind, Psychologischer Psychotherapeut und ehemaliger SG-Vorstand, thematisierte anhand eines Fallbeispiels einen „entspannten“ Umgang mit Diagnosen. Er warnte vor einem Rückzug auf die Einzelbehandlung. Kernkompetenz der Systemiker sei, im Mehrpersonensetting aktiv und sensibel mit dem Kontext umzugehen. Er appellierte an die Verbände, sich dafür einzusetzen, dass Systemische Therapie auch in Zukunft als eigenständiges qualifiziertes Angebot der Jugendhilfe erhalten bleibt.

Im anschließenden Fishbowl – moderiert von Michael Fähndrich – folgte eine engagierte Diskussion mit zahlreichen Beiträgen aus dem Publikum: Führt die sozialrechtliche Anerkennung zur „Degradierung“ der bisher systemisch Weitergebildeten? Wieso kann es keine Übergangsregelung geben, bei der die von den Verbänden zertifizierte systemische Therapieweiterbildung für eine Approbation anerkannt oder angerechnet wird? – Bei 4200 Stunden Approbationsausbildung würde eine vielleicht mögliche Anerkennung von rund 300 Theoriestunden aber auch nicht wirklich weiterhelfen, erläuterte Hermans. Die lebhafte Diskussion konnte länger als geplant fortgesetzt werden, da Franz Knieps, Vorstand des BKK-Dachverbands, seinen Beitrag „Psychische Gesundheit aus Sicht der Krankenkasse“ wegen Erkrankung absagen musste.

Zukunftsentwürfe und Überleben im Gesundsheitswesen

Nach der Mittagspause mit wohlschmeckenden Suppen und angeregten Unterhaltungen schilderten Carla Ortmann und Christina Hunger-Schoppe ihre systemischen Berufsbiografien im Beitrag „‘Verstörung‘ auf Rezept? SystemikerInnen über(s)leben im Gesundheitswesen“. Nachdem Wedekind am Vormittag eine für künftige Approbationsausbildungen fehlende Nachwuchsgeneration an Approbierten beklagt hatte, kam hier nun „Nachwuchs“ zu Wort – Ortmann ist Teilnehmerin der Approbationsausbildung bei der GST Berlin, Hunger-Schoppe ist promovierte Psychologin und Anthropologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Medizinische Psychologie des Universitätsklinikums Heidelberg.

Im Zentrum des Nachmittags standen dann vier Workshops: „Alle mit im Boot? Zukunftsentwürfe für die systemischen Verbände“ mit Borst und Hermans, „Luhmann im Wartezimmer? Zukunftsentwürfe einer (ambulanten) systemischen Psychotherapie im Krankenkassenkontext“ mit Wolfgang Dillo und „Wir sind Viele! – Zukunftsentwürfe systemischen Arbeitens im Kontext Jugendhilfe, Beratung und systemischer Therapie außerhalb der Kassenfinanzierung“ mit Hartmut Epple und Ansgar Röhrbein. Mit den Rahmenbedingungen von Psychotherapie im Krankenkassenkontext befasste sich ein eigener Workshop mit Johannes Schopohl, Jurist bei der Bundespsychotherapeutenkammer.

(bs)