Pflege im Brennglas der Coronapandemie

Wie viel Krise verträgt der Mensch? Wie viel Krise vertragen die Gesundheitsprofessionellen? Wie viel Krise vertragen die Gesundheitssysteme? Vernetzte Problematiken erfordern über das bisherige Tun hinausgehende Hilfen!

Immer noch schweigen die Entscheider*innen für wirksame und nachhaltige Veränderungsprozesse im Gesundheitssystem. Die derzeitige Situation ist von einem Bedauern den praktisch Pflegenden gegenüber geprägt, doch über das Bedauern hinaus zeichnen sich wenig wirklich hilfreiche Strategien ab. Systemisch bedingte Funktionsstörungen im Gesundheitssystem erscheinen tabuisiert.

Vor dem Hintergrund der erlebten Entwicklungen in der Weltengemeinschaft zeigt sich, wie verletzlich Leben ist und worauf es wirklich ankommt. Es stellen sich hochkomplexe Fragen zur Gesunderhaltung und zum Wohlergehen aller Menschen, in welchen Beziehungen und Kontexten sie auch leben.

In vielen, wenn nicht in allen, Kontexten der Lebensbewältigung sind Anlässe für professionelle und nicht-professionelle Pflege und Sorge erkennbar, denn „Ein Mensch ohne Pflege ist undenkbar.“ (Henderson). Und da Pflege nicht verstanden werden soll als Technik oder reines Handwerk, soll die Haltung dazu Sorge sein. Sorgendes Handeln zum Wohle aller Menschen, jung oder alt, gesund oder krank, mit oder ohne Handicap ist ein weltumspannender Auftrag und Ethos.

Die Systemrelevanz der Pflegenden in unserer Gesellschaft und im Gesundheitssystem ist unbestritten. Auch die Bevölkerung hat dies in vielfacher Weise für die professionell Pflegenden zum Ausdruck gebracht. Aber das reicht nicht! Worüber nicht gesprochen wurde, das sind die vielen Laien in familiären bzw. privaten Pflegesettings, aber auch die Pflege in der Eingliederungshilfe. Wie erfahren sie in den oftmals verkanteten Strukturen, Verantwortlichkeiten und Machtansprüchen tatsächlich wirksame Hilfen?

Die gesundheitliche Versorgung der Bürger*innen in unserem Land ist strukturell durchorganisiert. Fachministerien regeln, was getan werden darf oder soll, Einrichtungen der Behinderten-, Alten- und Krankenhilfe bieten Pflegesettings in stationärer, teilstationärer und ambulanter Versorgung. Allerdings ist der finanzpolitisch motivierte Grundsatz ambulant vor stationär zu beachten.

Die Coronakrise macht das schon lange bestehende Dilemma, dass zu wenig Personal zu viel notwendige Pflegearbeit bewältigen muss, nur noch deutlicher. Der Mangel an Personalressourcen und die Suche nach Fehlern im System und der darin Handelnden führen zu einer Abwertungsspirale, die wiederum dazu führt, dass Pflegepersonal ausbrennt und aus dem Beruf aussteigt und Pflegearbeit so diskriminiert wird und das ganze System ausbrennt.

Die bisherigen Bemühungen der Pflegenden selbst, der Gesellschaft und der anderen Professionen die Bedeutung des professionellen und heilkundlichen Handelns abzuringen, werden nicht ernst genommen und gehen ins Leere. Unverständlich ist dies, wo doch internationale Studien zeigen, wie die Zufriedenheit der Pflegeempfänger steigt, wenn Pflegende in ländlichen Gebieten mit erschwerten Zugängen zum medizinischen System tätig werden.

Wo und was fehlt? Neben der finanziellen Anerkennung fehlt es an struktureller und politischer Anerkennung. Daran ändert auch das derzeitige Reformpaket nicht viel. Die personalpolitische Situation der Pflegefachkräfte, die Umsetzung der Personaluntergrenzen, die Zwickmühle zwischen humanitärer Versorgung der Erkrankten und der finanzpolitischen Bewertung in den Klinken wird auf dem Rücken der Pflegefachkräfte und der medizinischen Fachkräfte ausgetragen.

Seit den 1970er-Jahren gelingt es den Mächtigen in unserer Gesellschaft nicht, anders als in Europa und der Welt, die Pflege in ihren Kompetenzen und gesellschaftlichen Teilhabemöglichkeiten zu professionalisieren. Welche Motive und Mächte spielen da eine Rolle?

Pflegende bemühen sich seit so vielen Jahren, sich fachlich darzustellen und für ihre eigene Professionalisierung und Politisierung einzusetzen. Ihr Motiv ist es, zum Wohlergehen der Bürgerinnen und Bürger eine der Profession Pflege zustehende Rolle mit Kompetenz und Mächtigkeit auszustatten.

Trotz einer Coronapandemie mit unbeschreiblichem Leid, den aktuellen Auswirkungen auch der Flutkatastrophe kommt die Ermächtigung der Pflegenden nicht in Gang. Wie kann das sein? Wo wird gebremst, umgelenkt oder geschwiegen?

Pflege ist der Prüfstein für die humanitäre und solidarische Qualität unserer Gesellschaft.

Wie gelingt es Pflegenden in anwaltschaftlichem Tun, sich für humanitäre und demokratische Werte einzusetzen, wenn es Teilen der Bevölkerung durch Alter, Krankheit, Behinderung, Armut oder Überlastung nicht gelingt, an den gesellschaftlichen und mitmenschlichen Möglichkeiten teilzuhaben. Die Pflegenden als systemrelevante Wächter der Humanität und Demokratie können sich einmischen in unserer Gesellschaft, die sich gerade sehr verändert. Die Bedingungen und Anforderungen machen, gerade in der Pandemie und der Flutkatastrophe hat es sich gezeigt, Menschen krank und sorgebedürftig.

Hier läge der Wert der Pflege nicht nur im kurativen, rehabilitativen Handeln, sondern hier wäre die systemumspannende präventive Arbeit von immenser Relevanz – Systemrelevanz.

Müssen lebenszeitliche menschliche Krisen erst in einen medizinischen Leistungskatalog aufgenommen werden, um anerkannt und begleitet zu werden?

Die vielfältigen Anliegen und Fragestellungen müssen system- und professionsübergreifend neu ausgerichtet und durchgesetzt werden. Es kommt auf eine wirksame Vernetzung aller Pflegesettings in all den stationären und ambulanten Kontexten an. Die „Fachgruppe systemisch {pflegen – betreuen – begleiten} beraten“ der DGSF nimmt sich diesen Fragen an und bietet einen kostenfreien virtuellen Fachtag am 01.12.2021 „Von Lücken und Brücken: Pflege anders denken“ an. Nähere Informationen unter https://www.dgsf.org/ueber-uns/gruppen/fachgruppen/pflegen.

Welchen Beitrag können wir als Systemiker*innen leisten, um Care-/Sorgearbeit, die in menschlichen Gemeinschaften immer schon geleistet wurde und wird, in neue Kontexte zu stellen?

Wir schauen auf vielfältige Entwicklungen um Care-Arbeit zukünftig anders zu gestalten, sie zu vernetzen und tragfähige Lösungen für Menschen (auch am Lebensende) und in Krisenzeiten zu finden.

Andrea Rose, Renate Zwicker-Pelzer, Susanne Kiepke-Ziemes
Fachgruppensprecherinnen

17. November 2021

Literaturangaben:

Dichter, M. et al: Pflege ist systemrelevant – nicht nur in Corona-Zeiten. Gemeinsame Stellungnahme zum internationalen Jahr der Pflegenden und Hebammen vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie (Quelle: www.https://dg-pflegewissenschaft.de)

Könninger, S., Kohlen, H., Fischer, N., Kaiser, M. (2021): Auf der Suche nach dem Ethos fürsorglicher Praxis und die Solidarität der Pflege. Professionspolitische Positionen in Zeiten der Corona-Pandemie. In: Bonacker, M., Geiger, G. (2021): Pflege in Zeiten der Pandemie. Wie sich Pflege durch Corona verändert hat. Opladen:Budrich. Seite 61-74

Schwan, Prof. Dr. Gesine (2018): Festvortrag zur Fachtagung 04.06.2018. Deutscher Bildungsrat für Pflegeberufe (DBR). 2018:2 (www.http://bildungsrat-pflege.de, (Zugriff zuletzt am 01.06.2021)

PTHV (2021) "Corona und die Pflege – nur Duldung oder Chance zur Professionalisierung?" Campustag online 2021 befasste sich mit der Corona-Krise aus pflegewissenschaftlicher und soziologischer Sicht (https://www.pthv.de/die-universitaet/pflegewissenschaft/, Zugriff am 01.06.2021)

Kurth, T., Brinks, R.: Schlecht vorbereitet in die Pandemie. In: Spektrum der Wissenschaft, Heft 6.21, Seite 38-45. Heidelberg