EFTA-Tagung 2010 in Paris

Impressionen von der EFTA Tagung in Paris, 29.-31. Oktober 2010

Michaela Herchenhan, Wilhelm Rotthaus, Jochen Schweitzer

2.200 TeilnehmerInnen aus fast allen europäischen Ländern trafen sich im Pariser Kongresspalast, gelegen zwischen  Champs Ellyssee und Bois de Boulogne, zur mittlerweile  7. Jahrestagung der European Family Therapy Asociation. Die vorhergehenden Jahrestagungen hatten 2001 in Budapest, 2004 in Berlin (veranstaltet von DGSF und SG) und 2007 in Glasgow stattgefunden. Wir hatten Gelegenheit, die DGSF dort zu vertreten und berichten im folgenden von unseren Eindrücken.

Die EFTA ist in drei Kammern organisiert. Eine Kammer (die Chamber of National Family Therapy Institutions - NFTO) repräsentiert 28 nationale Verbände, die wiederum zusammen etwa 20.000 FamilientherapeutInnen repräsentieren, davon wiederum über 4.000 in Deutschland: Nur in Griechenland und in  Deutschland gibt es mehr als einen nationalen Verband. SG und DGSF treten aber dort mit einer Stimme auf. Eine zweite Kammer (Chamber of Training Instituts - TIC) repräsentiert 121 Ausbildungsinstitute aus 21 Ländern. Eine dritte Kammer (Chamber of Individual Members - CIM) repräsentiert ca. 1.100 Einzelmitglieder. Die bisherige Vorsitzende Arlene Vetere (Großbritannien) übergab in Paris den Vorsitz an die Griechin Kyriaki Polychroni. Deutschland ist durch Maria Borcsa (Leipzig/ Nordhausen) im Vorstand der EFTA und im Vorstand der NFTO vertreten.

Einen  interessanten Beitrag  im großen Plenum am Freitag mit dem Focus „What has changed – 20 years after" hörten wir von Gisele Hachimi, der  immer noch sehr engagierten , vielleicht mittlerweile aber auch etwas resignierten Frauenrechtlerin und Mitgründerin von attac. Ihr gelungener juristischer Schachzug der Meistbegünstigungsklausel – das Beste für Europas Frauen – überzeugte 2008 nicht nur ein europaweites Netzwerk von Frauenorganisationen und prominenten Feministinnen, sondern auch in Frankreich die Politik. Begleitet wurde ihre juristische Arbeit von einer umfänglichen Dokumentation zur Situation der  Frauen in den einzelnen Ländern. Schwerpunkte der Forschung waren Sexualität, Familie, Gewalt gegen Frauen, Arbeitsrecht und Gleichstellung in Parteien und Politik. Trotz des EU - Gleichheitsgebots werden Frauen in der Europäischen Union noch benachteiligt - ein Ende für den Kampf um die Gleichstellung der Frau ist  auch heute  nicht in Aussicht. In fast allen europäischen Ländern haben die Frauen die geringere Bezahlung, besetzen  untergeordnete Positionen und stehen in teilweise willkürlichen und unwürdigen Abhängigkeiten innerhalb patriarchalischer Strukturen. Frau Hachimi beklagte, dass auch in der Familientherapieszene die Gleichberechtigung von Frauen ein eher marginales Thema sei. Und wenn wir unsere deutsche Szene anschauen, hat sie da sicher recht!

Bernhard Prieur  stellte eine von ihm mit Video aufgezeichnete Familientherapie mit einem Adoptionssystem zur Diskussion – namhafte KollegInnen wie Catherine DuCommun-Nagy, Phillip Caillé, Mony Elkaim,  Mauricio Andolfi und Carlos Sluzki gaben kritisches Feedback. Für mich (M.H.) eine gelungene runde, für mich (WR) eine längliche und etwas ermüdende Präsentation –  nichts wirklich Neues und dennoch inspirierend, wenn man seinen eigenen Kopf ausreichend aktivierte (WR). Ein wenig entstand der Eindruck, dass sich auf diesem Podium die alten Meister auch sehr gerne feiern ließen. Und warum auch nicht ?!

Das schöne an dieser Tagung war die Gelegenheit, in den vielen kleinen Symposien und Workshops viele ausländische KollegInnen fachlich und persönlich näher kennenlernen zu können. Dabei waren häufiger Ähnlichkeiten als Unterschiede zu entdecken, aber auch vieles, wo andere erfrischend weiter sind. Aus La Coruna in Galizien/ Nordwestspanien wurde erzählt, wie dort in der klinischen Psychologie ein ebenso praxisnaher wie forschungsintensiver Studiengang aufgebaut wurde. In Großbritannien läuft eine mit 800 Teilnehmern riesige, fantastische Studie zur Familientherapie bei selbstverletzendem Verhalten Jugendlicher egal welcher Diagnose, mit 35 erfahrenen Familientherapeuten in 35 Community Mental Health Centers.  Immer wieder trafen Wirksamkeitsforscher aufeinander und boten einander stimulierende neue Erkenntnisse zum Austausch, etwa zwischen dem Iren Alan Carr, dem tschechischen Briten Ivan Eisler, dem US-Amerikaner Russell Crane und dem Deutschen Rüdiger Retzlaff.  Aus Brüssel waren inspirierende Geschichten  von systemischer Netzwerkarbeit in „prekarisierten Stadtteilen“ zu hören.

Carole Gammer und Jorge de Vega hielten einen kreativen Workshop über die Sucht des 21. Jahrhunderts: Internet und Video Games. Interessant hier die Idee des Spaniers: “Vis a vis of the addiction“. Bei dieser Methodik versetzt sich der Klient in einen anderen, der ähnliche Probleme hat, und beschreibt aus dessen Blickwinkel die Situation. Jim Wilson und seine KollegInnen aus der dialogischen Therapieszene erfreuten mit interaktiver Methodik und der Aufforderung, seine Aufmerksamkeit auf den „moment of risk“ in Therapieprozessen zu lenken und die in diesem Augenblick sich bietende Chance aktiv zu nutzen. Als letztes habe ich (MH) noch einen Workshop von  Peter Rober besucht, der sich mit Familiengeheimnissen beschäftigte. Er stellte eine filmische Aufarbeitung eines holländischen  Filmemachers vor, bei der es um das Neufinden und Beschreiben des  Lebens seines Vaters ging, das von der Restfamilie über Jahrzehnte „ totgeschwiegen“ wurde. Sehr berührend und sensibel vom Referenten präsentiert.

Die Spanier Pier Sorgio Semboloni und Juan Luis Linares beschäftigten sich in höchst rezvoller Art und Weise mit dem Vater-Sohn-Verhältnis in den Opern von Giuseppe Verdi und der Paarbeziehung in den Opern von Giacomo Puccini und reflektierten die These, dass die Popularität dieser Opern unter anderem darin begründet war, dass sie ein höchst intensives und emotional ergreifendes "format de thèrapie prefamiliale" waren – in der Arbeit mit entsprechend interessierten KlientInnen auch heute noch wunderbar zu nutzen..

Weniger begeisternd erschien die Kongressorganisation. Wer nicht gut genug Französisch verstand, konnte etwa 50 % der Veranstaltungen, die nicht in Englisch stattfanden oder übersetzt wurden,  nicht hinreichend folgen. Übersetzungen ins weitere Sprachen gab es nicht, was für die deutsche Sprache als Folge der sehr geringen Zahl deutscher TeilnehmerInnen. absolut verständlich war.  Die Erkundung, welche Veranstaltung zu welchem Zeitpunkt in welchem Raum stattfinden würde, mobilisierte zuweilen Kindheitserfahrungen mit Geländespielen. Mir (MH) haben Plätze oder Räume, die zum Verweilen und zum Austausch einladen, gefehlt. Das Palais de Congres wirkte auf mich wenig dialogstiftend und sehr kühl!  Wunderbar stilvoll aber war  die Gala Soiree im „Republikanischen Zirkel“ unweit des Louvre.

Die EFTA als Verband machte auf mich (JS) einen gemischten Eindruck. Ihre Verdienste liegen darin, dass sie solche Zusammentreffen ermöglicht, dass sie den nationalen Verbänden Europäische Vergleichsmaßstäbe für nationale Auseinandersetzungen gibt, dass sie sich und uns für - bislang noch ausstehende - gesetzliche europäische Aus- und Weiterbildungsrichtlinien rüstet und dass sie einzelne Projekte länderübergreifend durchführt. Hervorstechend darunter erscheint das von Peter Stratton (UK) und Kollegen initiierte SCORE-Projekt, die europaweite Erarbeitung und Testung eines Wirksamkeits-Forschungsinstrumentes für Familientherapien. Dieses läuft jetzt, mit Maria Borcsa als nationaler Koordinatorin, auch in Deutschland an.

Unter einer Mehrgenerationenperspektive wirkte die EFTA etwas überaltert. Es schien, dass die Pioniere von 1975/1980 wie Mony Elkaim, Luigi Onnis, Phillip Caille, Maurizio Andolfi oder Jaques Pluymaeker noch heute den Verband wesentlich prägen, wobei allerdings jüngere, meist weibliche Führungspersonen zunehmend nach vorne treten. Die EFTA scheint in den romanischen und Mittelmehrländern stärker verankert als in Nord- und Osteuropa. Allerdings ist dieser Eindruck auch der Tatsache geschuldet, dass die recht hohenTeilnahmegebühren und die durchaus eindrucksvollen Pariser Hotelkosten für Osteuropäer kaum finanzierbar sind. Deutsche sind als Einzelmitglieder und auch als Einzelinstitute wenig vertreten. Zu bedauern war, dass die verschiedenen Wahlvorgänge zu EFTA Gremien reine Personenwahlen zu sein schienen, ohne dass irgendwelche Programmatiken hinter den einzelnen Kandidaturen benannt waren.

Vielleicht täten also der EFTA eine deutlichere Programmatik und mehr handfeste Projekte gut, vielleicht eine Reflexion ihrer Attraktivität auf jüngere FamilientherapeutInnen. Aber auch ohne das bietet sie wunderbare, wertvolle europäische Austauschmöglichkeiten zwischen Kolleginnen und Kollegen. Wir (darin sind wir drei uns einig) möchten daher deutschen KollegInnen die Reise zur nächsten EFTA Tagung in drei Jahren (der Tagungsort wird weit voraus bekanntgegeben werden)

sehr empfehlen.